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Die Königsmacherin – Leseprobe

Die vertauschte Braut

Armut, Schmutz und Elend waren Vater Gregorius nicht fremd. Aber noch nie hatten seine Augen solch ein Geschöpf gesehen, wie jenes, das an diesem warmen Spätsommerabend des Jahres 741 die Holzpforte zum Klostergarten der Abtei aufgestoßen hatte.

Es schien weder Mann noch Frau zu sein, war vielleicht überhaupt nicht menschlich. Als sei es den Tiefen der Erde entstiegen, von Gluten gegerbt, von Kohle gebeizt, durch Schlamm gezogen, von Wurzeln zerkratzt und Flechten umschlungen, stand es stumm in der Toröffnung. Wirre Zotteln in allen Herbstfarben verdeckten fast gänzlich die Fläche, wo sich bei Menschen das Gesicht befindet, und unter dem schmutzsteifen Überwurf staken statt der Füße zwei riesige unförmige Klumpen wie aus reinem Erdreich hervor.

„Jesus Christus, Allmächtiger!“ entfuhr es dem Abt, den das leise Quietschen der Pforte aus seinem Gespräch mit der Klosterstifterin am Kräuterbeet herausgerissen hatte.

„Darunter verbergen sich bestimmt keine Hufe, mein lieber Freund“, sagte die hagere Frau, dem Blick des Abtes folgend. Sie trat auf das Wesen zu, wechselte vom Lateinischen ins Deutsche über und fragte: „Wie heißt du, mein Kind, woher kommst du und wohin des Weges?“

„Gestatte mir zunächst die Frage, edle Frau, ob dieses Anwesen die Abtei zu Prüm beherbergt“, kam eine Replik in wohlgesetztem Latein. Die Heiserkeit der Stimme täuschte nicht darüber hinweg, dass die Kreatur zweifelsfrei weiblichen Geschlechts, von vornehmer Abstammung und noch dazu ziemlich jung war.

Höflich bestätigte die Klosterstifterin Bertrada von der Burg Mürlenbach, die von allen nur Frau Berta genannt wurde, dass sich dieses so verhalte und bat die Fremde noch einmal um ihren Namen. Das Wesen teilte mit zwei verschmutzten Händen den struppigen Gesichtsvorhang und blickte aus hellgrünen Augen, die sich in dem rußigen Gesicht seltsam klar ausnahmen, an der Klosterstifterin und dem Abt vorbei in den blühenden Garten.

Ihrer Antwort: „Flora“ folgte ein Seufzer. Der Abt und die Klosterstifterin sprachen gleichzeitig:
„Was führt dich hierher?“

„Wer ist dein Vater?“

Der langgezogene Seufzer ging in ein fast unverständliches Murmeln über: „Hunger.“

Frau Berta sah den Abt an. Hatte er die Fremde vielleicht verstanden? Er hob die Schultern. „Ungarn?“ brummte er fragend. Die Klosterstifterin trat einen Schritt näher, legte die Hand ans Ohr und fragte: „Heißt du Flora von Ungarn?“

Die Fremde nickte und sank ohne ein weiteres Wort zu Boden. Vater Gregorius streckte spontan die Arme aus, ließ sie aber dann hilflos zur Seite fallen und sandte der älteren Frau einen verzweifelten Blick zu. Die hatte schon einen jungen Mönch herbeigewinkt, der, einen Holzkarren mit Erde hinter sich her ziehend, neugierig näher gekommen war.

„Du kannst hier ab- und wieder aufladen“, erklärte Frau Berta und deutete auf die reglose Figur am Boden. „Und da ich sie nicht allein in den Karren schaffen kann, wirst du mir helfen.“

„Aber …“, begann der Abt.

„Ich weiß, ehrwürdiger Vater, den Körper einer Frau dürft ihr nicht berühren, aber der Herrgott hat meines Wissens nach nichts von Lumpen gesagt. Sofern er überhaupt etwas von eurem Umgang mit Frauen gesagt hat …“ Sie bückte sich und hob den Umhang leicht an, der die Gestalt jetzt gänzlich bedeckte, und sagte zu dem jungen Mönch: „Unter Schichten verkrusteten Tuchs mag sich irgendwo der Fuß verbergen, aber vertrau mir, er ist deinem Zugriff entzogen, und du wirst der Sünde nicht näher sein, wenn du mir hilfst, diesen Haufen verfaulter Lappen zu bewegen.“ Sonst erzähle ich dem Väterchen Abt noch, weshalb ihr abends so gern am Flussufer lustwandelt, dachte sie grimmig.

Erst vor einer Woche war wieder eine der angelsächsischen Frauen bei ihr erschienen und hatte um Arbeit im Mürlenbacher Längshaus nachgesucht, ja, sie angebettelt, gegen Speise und Unterkunft dort Altartuch oder Kleidung anfertigen zu dürfen. Spinnen, nähen, färben, weben, sticken, waschen – alles sei ihr lieber, als für Brot, Wein, Bier oder ein paar Münzen weiterhin den Mönchen am Flussufer zu Willen zu sein. Warum sie denn nicht in ihre Heimat zurückkehre, hatte die Klosterstifterin gefragt. Die Frau aus Albion hatte ihr Gesicht verhüllt. Sie könne ihrer Familie nie wieder unter die Augen treten. Als ehrbare Pilgerin habe sie ihr Vaterland verlassen, als Hure werde sie in der Fremde sterben. Frau Berta hatte der Frau, die mit Sicherheit nicht zum Frondienst geboren war, einen Platz im Färbereiraum ihres Mürlenbacher Genitiums, der Tuchmacherei, zugewiesen.

So geht das nicht weiter! Ich muss Erzbischof Bonifatius bei seinem nächsten Besuch unbedingt die Not der Frauen aus seiner Heimat schildern. Nein, ich darf gar nicht daran denken, dass er vielleicht sogar mitschuldig an ihrem Los ist. Warum schwärmt er auch so laut und so heftig von Rom! Das führt doch diese unglückseligen Frauen erst auf den Weg ins Verderben! Wie einfältig zu glauben, einer allein reisenden Frau genüge der Schutz des Herrn, wenn ihr unterwegs so viele Männer begegnen! Diesen Pilgerreisen Einhalt zu gebieten wird dem guten Bonifatius wohl weitaus schwerer fallen, als vor staunenden Heiden eine heilige Eiche zu fällen! Eine Angelsächsin ist diese Flora von Ungarn jedenfalls nicht, dafür ist ihr Lateinisch zu wohlklingend. Und für eine Rompilgerin hat sie sich zu weit nach Norden verirrt und ist viel zu vornehmer Herkunft. Solch gepflegtes Latein spricht man nur in den feinsten Familien. In meiner zum Beispiel. Außerdem würde keine edle Frau ohne erfahrenen Begleitschutz nach Rom ziehen. Allerdings ist mir auch noch keine edle Frau begegnet, die derart abscheulich zugerichtet ist und so erbärmlich stinkt. Daneben ist ja meine Pferdescheune nach dem Bierfest der Knechte ein Hort des Wohlgeruchs! Aber ich finde schon noch heraus, was oder wer sich unter diesen Hüllen versteckt!
   
„Los!“ befahl Frau Berta ungeduldig und griff selbst dorthin, wo sie die Schultern der weiblichen Gestalt vermutete. Der Mönch kippte die Erde aus, fahndete mit abgewandtem Gesicht nach den Füßen und half, die bewusstlose Frau in den Karren zu heben.

Vater Gregorius hatte sich inzwischen ohne ein weiteres Wort entfernt. Er mochte zwar der Abt des Klosters sein, aber wenn die Abteistifterin in Prüm weilte, wusste selbst der ergebenste Mönch, wer dann tatsächlich den Ton angab. Was sehr ärgerlich war, da Frau Berta vor zwanzig Jahren ihren Anteil von Prüm und Rommersheim ja eigentlich der Abtei gestiftet hatte. Gut, die Abgaben wurden jetzt ans Kloster entrichtet, aber es lag nun mal nicht in Frau Bertas Natur, sich von dem einmal Geschenkten auch tatsächlich zu trennen. Wieder einmal ärgerte sich Vater Gregorius, dass sein Vorgänger ihr ein Mitspracherecht bei allen Entscheidungen zugesagt hatte, und dass er selbst einfach zu schwach war, sich dieser resoluten Edelfrau zu widersetzen. Es war außerordentlich demütigend, dass er ihre Anordnungen widerspruchslos entgegen nahm und auch noch befolgte! Immer wieder hatte er den Federkiel angespitzt, um sich bei der höchsten Stelle, nämlich beim Hausmeier persönlich, über die Einmischung dieser überaus weltlichen Edelfrau zu beschweren, hatte den Brief aber dann doch nicht geschrieben.

Frau Bertas Güter reichten von den kahlen Hängen des Eifelgaus bis an die üppig begrünten Moselberge. Eine Witwe mit so viel Grundbesitz verfügte über erheblich mehr Macht als der arme Abt eines eher unbedeutenden Klosters. Warum hatte sie nicht wie andere vornehme Witwen irgendwo ein Frauenkloster gegründet? Da hätte sie sich selbst als Äbtissin einsetzen und die Novizinnen tyrannisieren können! Vater Gregorius stieß einen tiefen Seufzer aus, als er die Tür zum kleinen Skriptorium aufstieß. Bonifatius hatte Recht. Es wurde höchste Zeit, dass sich die fränkische Kirche endlich der römischen anschloss! Schließlich hatten Frauen in einem römischen Männerkloster nichts zu sagen. Mulier taceat in ecclesia. 

Nicht zum ersten Mal bedauerte Vater Gregorius, dass der Arm des Papstes immer noch so kurz war. Aber vielleicht würde sich das mit Hilfe des Bonifatius bald ändern. Der sah in der römischen Kirchenverfassung, in der Unterordnung aller einzelnen Kirchen, also auch der fränkischen, unter Bischöfe, und der Bischöfe wiederum unter den Papst die einzige Rettung vor Verwilderung in Sitte und Lehre der Geistlichen und des Volkes. Bei seinem letzten Besuch hatte er Vater Gregorius gefragt, ob er sich zutraue, in Prüm alle Bischöfe Austriens zu beherbergen. Er erwäge nämlich, hier eine Kirchenversammlung abzuhalten, ein so genanntes Konzil. Eine unerhörte Initiative, hatte Vater Gregorius damals gedacht. Aber als ihm kurz danach zu Ohren kam, dass einer seiner Mönche den Streit mit dem Ehemann einer Halbfreien mit einem wahrhaftigen Schwert ausgetragen hatte, konnte er Bonifatius nur recht geben: Es wurde Zeit, die Kirchenzucht einzuschärfen. An das allnächtliche Treiben am Ufer der Prüm durfte er gar nicht denken. Und Frauen sollten wissen, wo sie hingehörten. In der Bibel war das klar und deutlich formuliert. Jetzt war es an der Zeit, allgemein verbindliche Gesetze zu schaffen.

Frau Berta, die Klosterstifterin, war leicht brüskiert, dass sich der Abt wortlos verabschiedet hatte, doch sie vergaß den Bruch der Etikette schnell. Ihre Gedanken kreisten um die fremde Frau. Aber selbst, wenn sie nicht anderweitig beschäftigt gewesen wäre, hätte sie sich nie vorstellen können, dass Vater Gregorius ihr gegenüber einen Groll hegte. Sie war es gewohnt, dass man auf ihr Wort hörte und nichts in Frage stellte. Schließlich hatte sie dafür gesorgt, dass es den Menschen und den Mönchen in Prüm gut ging. Sie hatte die Rodung und Kultivierung des Bodens überwacht, die Seifensiederei, die Kornmühle, die Netzmacherei, die Weinkelterei und die Bierbrauerei eingerichtet und die kleine Siedlung am Hang erbauen lassen. Nicht nur den Gebeten der Mönche war zu verdanken, dass der Spelt, die Weizensorte, die in der Prümer Kalkmulde gedieh, jeden Mai schon so hoch stand, dass sich ein Hase darin verstecken konnte. 
Frau Bertas Blick streifte das Hospital der Abtei, in dem zwölf arme Männer mit körperlichen Gebrechen untergebracht waren. Bei der Gründung des Klosters hatte sie darauf bestanden, dass die Einkünfte aus ihrem Gut Wesselsdorf den Unterhalt dieser bedauernswerten Kreaturen bezahlen sollten. Diese Männer nahmen den Mönchen mancherlei Arbeit ab: Sie säuberten das Klostergelände, entfernten menschliche und tierische Ausscheidungen, flickten die Palisaden, läuteten die Glocken, pflegten die Kranken und hielten bei Bedarf auch Totenwache. Frau Berta erwartete keine Dankbarkeit für ihre wohltätigen Werke, fand es aber auch nicht zu viel verlangt, dass man ihr dabei keine Steine in den Weg legte.

Jetzt ging sie neben dem Mönch und seiner Fuhre her und schüttelte den Kopf, als er vor dem Eingang zum Hospital anhielt und die Tür mit dem Fuß aufstoßen wollte.

„Diese Lumpen bedecken eine edle Frau“, sagte sie knapp und wies mit einem Nicken zum Gästehaus der Vornehmen.

Die Schattenjägerin – Leseprobe

Die Kindsbraut

1406-1415
Es war noch dunkel, als Jakoba aufwachte. Mit Hagel durchsetzter Gewitterregen peitschte gegen die Fenster und wie ein Klageweib heulte der Sturmwind um das alte Gemäuer von Schloss Le Quesnoy. Zitternd setzte sich das Kind auf, zog die Beine an und wickelte sich in seine Decken ein.

Ein Blitz erhellte für einen Augenblick das Zimmer. Vor dem Bett stand eine fremde Frau in einem weißen Nachtgewand. Ihr Gesicht war hohnverzerrt und in der Hand hielt sie etwas Rotes aus Stoff. Jakoba wich zurück und schrie. Ein Donnerschlag erstickte den Ruf. Beim nächsten Blitz war die Erscheinung verschwunden.

Mit den Decken um die Schultern kroch Jakoba aus dem Bett und tastete sich zum Lager ihrer Kinderfrau vor. Als sie mit den Füßen gegen einen umgestürzten Bierkrug stieß und das pfeifende Schnarchen Mechthilds vernahm, wusste Jakoba, dass sie hier vergeblich Schutz suchte. Wo konnte sie hin?
Natürlich zum Vater. Wenn er nur nicht wieder die Nacht bei einer der anderen Frauen verbrachte! Jakoba mochte diese Frauen nicht, die so viel Aufmerksamkeit ihres Vaters einforderten und ihm einen Sohn nach dem anderen gebaren. Sie brauche nicht eifersüchtig zu sein, hatte der Vater ihr oft versichert. Die Bastarde habe er zwar auch ein bisschen lieb, aber sie sei und bleibe seine einzige Erbin. Dereinst werde sie Gräfin von Holland, Seeland und dem Hennegau sowie Herrin von Friesland sein und wahrscheinlich auch noch einen schönen Titel ihres künftigen Gemahls führen.

Auf dem kalten, zugigen Gang vor ihrem Zimmer blieb Jakoba unschlüssig stehen, bis sie zwischen den Donnerschlägen gedämpftes Stimmengewirr hörte. Eilig lief sie den von nur einer Fackel erleuchteten Gang entlang bis zur Empore, von der aus sie den Rittersaal überblicken konnte.

Das Gelage war noch im Gange, auch wenn die Spielleute bis auf eine dunkelhaarige Harfenspielerin ihre Instrumente schon niedergelegt hatten. Jakoba sah nur noch einen Hund, der unter den Tischen nach Essbarem fahndete. Die anderen Tiere lagen dicht aneinander gedrängt vor dem geflochtenen Ofenschirm an der großen Feuerstelle. Am fernen Ende des Saals stritten sich zwei Ritter um eine Frau, der das Brusttuch bereits abhandengekommen war und die nur noch halbherzige Anstrengungen unternahm, die Hände der Männer von sich abzuhalten. Viele von Wein oder Bier schwer gewordene Köpfe ruhten zwischen Schüsseln auf den bekleckerten Tischen, manch ein Zecher war von der Bank gerutscht, und aus unbeleuchteten Ecken drang unterdrücktes Kichern. Zu kurz zuckten die Blitze, als das; Jakoba hätte erkennen können, was die bewegten Leiber dort trieben.

Direkt unter ihr stand der erhöhte Tisch ihrer Eltern. Sie traute sich nicht, den Kopf übers Geländer der Empore zu halten, da sie nicht wusste, wie weit der Schein der Kerzen in den hohen Ständern und der Fackeln in den geschmiedeten Haltern reichte. Sie sah nur das Ende der langen Tafel, wo sich der winzige Tischhund ihrer Mutter auf die Hinterbeinchen gestellt hatte und versuchte an die Speisereste im silbernen Almosenschiff heranzukommen. Der Aufschneider säbelte am Tranchiertisch ein Stück vom Hirschkuhbraten ab und hielt es dem Hündchen hin. Jakoba verzog das Gesicht, als er sich danach in die Hand schnäuzte. Er nahm dafür nicht, wie es sich gehörte, die Hand, die das Messer hielt, sondern die, mit der er aß.

Ihr war schon öfter aufgefallen, dass sich Erwachsene offensichtlich nicht an die zehn Tischregeln zu halten hatten, die ihrer Mutter Marguerite als eine wichtige Erziehungsgrundlage galten. Jakoba hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Würdenträger ihre Zähne am Tischtuch gesäubert hatten! Sogar ihr Vater tunkte Bissen ins Salzfass und spuckte zerkaute Fleischstücke aus.

»Quod licet jovi, non licet bovi« bemerkte Marguerite kühl, wenn Jakoba sie darauf hinwies. Gut, ihr Vater war vielleicht so etwas wie ein Gott, aber das machte seine Tochter doch nicht zum Rindvieh!
Diener sammelten von einigen Tischen die Essunterlagen ein, jene Soßen getränkten Brotscheiben, auf denen noch Fleisch- und Geflügelreste klebten und die zusammen mit dem Inhalt des Almosenschiffes an die wartenden Armen der Umgebung vor dem Tor des Schlosses verteilt wurden. Jakoba gruselte sich jeden Tag aufs Neue vor diesen dunklen abgerissenen Gestalten mit wirren Haaren, wilden Augen und widerlichen Hautkrankheiten, die sich um diese Krumen von den Tischen der Reichen rissen.

Ihren Vater, der mit dem Rücken zum Kamin am Kopfende saß, konnte sie nicht sehen, aber sie horchte auf, als er in seinem etwas hölzernen Französisch rief: »Meine Tochter ist also Teil eines Kuhhandels! Ihr habt Jakoba verkauft!«

Jakoba erstarrte. Verkaufen hieß nie wieder sehen. Das hatte sie gelernt, als ihr Lieblingspferd verkauft worden war. Und jetzt hatte man sie selbst verkauft! Was bedeutete das?

War sie dann doch eine Art Rindvieh? Ihr Vater konnte nicht zulassen, dass sie verkauft wurde, er war Herzog Wilhelm, Graf von Holland, Seeland und dem Hennegau, der mächtigste Mann im Land, hatte ihre Bastardschwester Beatrix behauptet.

Jakoba dachte nicht mehr an die Kerzen, die sie verraten könnten, sie blickte über das Geländer auf die Köpfe darunter.

»Das ist das Los von Fürstentöchtern*, bemerkte der Bruder ihrer Mutter, Herzog Johann von Burgund, dem zu Ehren dieses Fest gegeben wurde. Jakoba erkannte ihn an seiner Stimme und der extravaganten Kleidung aus Goldtuch und violetter Seide. Sein Gesicht lag im Schatten der kompliziert gebundenen üppigen Kopfbedeckung aus rotem Samt mit Rosen aus Rubinen.

»Natürlich musst du deine Tochter weggeben!« Das war Johann von Bayern, der Bruder ihres Vaters, der mit diesen Worten seinen Platz als Lieblingsonkel bei Jakoba verspielte. Sein Vater, Jakobas Großvater, der im vergangenen Jahr gestorbene Herzog Albrecht von Bayern, hatte seinem jüngsten Sohn die kirchliche Laufbahn vorgeschrieben und dessen Wahl zum Bischof von Lüttich geregelt. Johann von Bayern
wollte aber keine höhere Weihe als die zum Subdiakon empfangen. Er war gewissermaßen Bischof im Wartestand. Damit hielt er sich die Möglichkeit offen, aus dem Kirchendienst auszuscheiden, falls sich ihm etwas Interessanteres bieten sollte.

»Wenn man bedenkt … «die klangvolle, aber kalte Stimme ihrer Mutter Marguerite ließ Jakoba erschauern, » … dass du sie gleich nach der Geburt am Tag des Heiligen Jakob am liebsten ertränkt hättest …«

»Verständlich«, meldete sich wieder Johann von Bayern, »wenn die Ehefrau nach sechzehnjähriger Ehe nur mit einer Tochter dienen kann. Jetzt ist Jakoba beinahe fünf. Wo bleibt der Erbe?«

Ein Blitz tauchte die Gesellschaft für einen Augenblick in grelles Licht. Mitten im Rittersaal sah Jakoba wieder die fremde Frau im weißen Gewand mit dem roten Stoff in der Hand. Ihre Füße schienen den Boden nicht zu berühren. Die Frau blickte zur Empore hinauf und fletschte die Zähne wie ein Hund, der gleich zubeißen würde. Jakoba floh. Sie rannte den Gang zurück zu ihrem Zimmer, riss die Tür auf, stürzte auf Mechthild zu und rüttelte die Kinderfrau wach.

»Lass das, Jakoba,« murrte Mechthild. »Geh ins Bett, sonst rufe ich den schwarzen Ritter, damit er dich holt.«

Noch eine Bedrohung! War sie denn nirgendwo sicher? Gab es niemanden, der sie beschützen konnte? Jakoba lief im Zimmer auf und ab, hatte Angst, ins Bett zu gehen und einzuschlafen.

Wenn sie wieder aufwachte, würde man sie wie ihr Lieblingspferd an einer Leine aus dem Schloss führen. Sie war verkauft worden und konnte gar nichts dagegen unternehmen.

Wirklich nicht? Wenn sie nun weglief …

Die Eigensinnige – Leseprobe

(früher: „Die Frau, die nichts tut“)

HOLLAND

Ausgerechnet Finnland! Warum hatte die Freundin meiner Mutter keinen Indonesier geheiratet? Oder einen Griechen?

Als ich von der Reling der Finnhansa über die endlos graue Fläche der Ostsee blickte, konnte ich mir Finnland mühelos als ein ständig von Schnee und Eis überzogenes Land vorstellen. Bei strahlendem Spätsommerwetter hatten wir Lübeck verlassen. Aber binnen weniger Stunden stand ich schon in dicker Winterjacke auf Deck und fuhr der kalten Jahreszeit entgegen.

Nein, ein Grieche hätte nichts genutzt, schließlich gab es in seinem Land nur wenig Wald. Wenig Wald, wenig Holz, also wenig Arbeit für meinen Vater. Wenn man sein Herumhobeln überhaupt als Arbeit bezeichnen konnte. Seine Mutter hatte für die künstlerischen Ambitionen ihres Sohnes nur ein Wort gekannt: erschütternd. Nicht etwa, dass seine Werke die Welt oder den Betrachter erschüttert hätten, nein, erschütternd war die Tatsache, dass Wilhelm Meander mit der Bildhauerei seinen Lebensunterhalt bestreiten wollte.

Vieles hatte Großmama Meander erschüttert. Zum Beispiel, dass mein Vater eine holländische Halbindonesierin geheiratet hatte. Am meisten aber hatte sie seine Weigerung erschüttert, die Tradition des Hauses Meander fortzusetzen und nach Gründung der Bundeswehr wieder Offizier zu werden. Wenn mein Vater entgegnete, er hätte sich in den Jahren bei der Wehrmacht geschämt, eine deutsche Uniform zu tragen, legte meine Großmutter zur Strafe eine ihrer Platten mit Marschmusik auf. Als Reaktion darauf stellte mein Vater in der angrenzenden Werkstatt die Kreissäge an. Ich genoss den Höllenlärm, weil ich dann aus voller Kehle schreien konnte. Das trug mir zwar Prügel von der Großmutter ein, aber dann kam der schönste Teil des Tages. Meine zierliche Mutter, die fast nie den Mund aufmachte, stürzte ins Zimmer und entriss mich der Großmutter. Sie drohte ihr, sie umzubringen, wenn sie noch einmal Hand an mich legte, und nahm mich mit in ihr Heiligtum. Während wir die steile Treppe zum Dachboden hinaufkletterten, hörten wir die Großmutter noch toben: »Die Halbwilde muss raus!«

Dass sie damit meine Mutter meinte, begriff ich erst, als ich älter war und erfuhr, dass meine Mutter in einem weit entfernten Land geboren war. In einem Land, wo immer die Sonne schien, wo niemand laut wurde und alle Menschen fröhlich waren.

Im Heiligtum meiner Mutter saßen wir unter der Dachschräge im Schneidersitz auf Bambusmatten. Meine Mutter zündete ein Räucherstäbchen an, wickelte mich in bunte Stoffe und zog aus einem zerbeulten Koffer kleine Stofftütchen mit wohlriechenden Gewürzen. Manchmal hängte sie auch ein Laken über eine Leine, richtete einen Lichtstrahl darauf und kroch dahinter. Mit ihren Fingern und kleinen Gegenständen erzählte sie mir dann eine Schattenspielgeschichte. Sie hatte meinen Vater einmal gebeten, ihr richtige Wajang-Puppen zu machen, aber er meinte, ihm würden nur großformatige Werke liegen. Um die mächtigen Baumstämme, aus denen er bizarre Formen gestaltete, in die Werkstatt zu wuchten, hatte er sogar ein riesiges Stück Außenmauer entfernt und ein Garagentor eingesetzt.

Immer, wenn wir allein waren, sprach meine Mutter niederländisch mit mir und ich begriff es als Auszeichnung, mich mit ihr in einer Sprache zu unterhalten, die meine Großmutter und mein Vater weder verstanden noch billigten. Sie hatten ihr sogar ausdrücklich verboten, mit mir in ihrer Muttersprache – oder in ihrem Fall Vatersprache – zu reden, und zwar mit der Begründung, dass dies meinem Deutsch abträglich sei. Ich könnte genauso gut gleich Plattdeutsch lernen. Dies war der einzige Punkt, in dem sich meine sonst immer fügsame Mutter den Autoritäten im Haus widersetzte. Sie sagte mir, sie wolle nicht den gleichen Fehler begehen wie ihre Mutter, deren Mann ihr ebenfalls verboten hätte, in ihrer eigenen Sprache mit ihrer Tochter zu sprechen. Heute bin ich meiner Mutter sehr dankbar, dass ich auf diese Weise fast akzentfrei Niederländisch sprechen gelernt habe.

Da mein Vater mit seinen Bildhauerarbeiten kein Geld verdiente, waren wir von Großmama abhängig. Sie erinnerte uns gern daran.

»Die erste Generation erwirbt es, die zweite vermehrt es, und du, die dritte, verschleuderst es!«, warf sie meinem Vater eines Abends beim Essen vor und wies auf das Fischfleisch, das noch zwischen den Gräten steckte, die mein Vater auf den Resteteller gelegt hatte. Er würde sich ja gern irgendwo als ungelernter Handwerker anstellen lassen, meinte mein Vater, aber diese Worte erschütterten Großmama so sehr, dass ihr mächtiger Leib zu beben begann.

»Nur über meine Leiche! Ich werde doch nicht zulassen, dass ein Sohn von mir niedere Arbeiten verrichtet. Noch dazu ein Offizier!« Sie beförderte das Grätenstück auf ihren Teller und harkte mit der Gabel die Fischfasern heraus. Erlernt habe er aber nur das Kriegshandwerk, entgegnete mein Vater, was ihm ein donnerndes »Eben!« und die Aufforderung einbrachte, sich augenblicklich bei der Bundeswehr zu melden.
Dafür wäre er inzwischen viel zu alt, erwiderte mein Vater.

»Du Verschwender!«, rief Großmama, und um ihm deutlich zu machen, dass sie damit nicht nur sein vergeudetes Leben meinte, zeigte sie ihm triumphierend die Fischausbeute auf der Gabel, bevor sie diese zum Mund führte und den Bissen schluckte.

Dann geschah alles ganz schnell. Großmama lief rot an, hustete und würgte. Aus herausquellenden Augen starrte sie uns erschüttert an, klopfte sich mit dem Zeigefinger an die Kehle, machte noch ein paar entsetzliche Geräusche und starb. Alle drei blieben wir wie gelähmt am Tisch sitzen. Das Normale wäre wohl gewesen, dass wir irgendwas getan hätten.

Aber meine Großmutter hatte, von Erziehungsprügeln abgesehen, nie auch nur den geringsten körperlichen Kontakt geduldet. Selbst in einer solch extremen Situation war es undenkbar, ihr wild auf den Rücken zu klopfen, ihr ein Glas Wasser an den Mund zu halten, ihr von hinten den Brustkorb zuzudrücken oder gar zu versuchen, sie auf den Kopf zu stellen.

»Und jetzt?«, fragte meine Mutter verzagt, nachdem Großmama mit einem letzten Donnern vom Stuhl fiel.

Ein Jahr nach Großmamas Tod musste mein Vater einsehen, dass er von dem ererbten Kapital seine Familie auf Dauer nicht würde ernähren können: Auch seine Versuche, sich als Handwerker zu etablieren, schlugen fehl.

»Wir müssen das Haus verkaufen«, verkündete er eines Abends.

»Und wo sollen wir dann wohnen?«, wollte meine Mutter wissen.

»Indonesien! «, platzte ich heraus.

Ich konnte mir gut vorstellen, den Rest meines Lebens in einem warmen Land auf Bambusmatten zu sitzen und nichts zu tun, als fröhlich zu sein. Damals war ich elf Jahre alt.

Meine Mutter schüttelte traurig den Kopf und erklärte mir, dass wir als Deutsche nicht ohne weiteres in so einem Land leben könnten.

»Hast du da denn keine Familie?«, fragte ich verwundert. .Deine Mutter war doch Indonesierin!«
Ich erfuhr, dass meine Großmutter mütterlicherseits nach ihrer Eheschließung gezwungen worden war, den Kontakt zu ihrer indonesischen Familie abzubrechen. Mein Großvater hatte schon genügend Probleme damit, als Vertreter der Kolonialmacht eine Eingeborene geheiratet zu haben.
»Warum kommen deine Eltern nie zu uns?«, fragte ich. »Sie leben doch in Holland. Warum fahren wir nie hin?«

Ich rechnete damit, dass meine Mutter mir auf diese Fragen ihr übliches Das verstehst du nicht! entgegnen würde.

Diesmal antwortete sie aber gar nicht, sah nur meinen Vater an und bemerkte: »Vielleicht geht es jetzt. Es ist schließlich beinah ein Vierteljahrhundert her …« 

»Sie haben nie auf deine Briefe geantwortet«, meinte mein Vater und fügte hinzu: »Vielleicht leben sie gar nicht mehr. Oder sie sind umgezogen.«

»Dann wären die Briefe zurückgekommen.«

»Was ist beinah ein Vierteljahrhundert her?«, fragte ich.

»Das verstehst du nicht.«

»Du würdest also gern wieder in Holland leben?«, fragte mein Vater.

»Versuchen könnten wir es.«

»Aber Iris müsste dann da zur Schule gehen.«

»Iris spricht Niederländisch.«

»Indonesien!« drängelte ich. »Da scheint immer die Sonne!«

»Vielleicht ist das gar keine schlechte Idee«, überlegte meine Mutter. »Mama kann für uns ja den Kontakt zu ihrer Familie wiederherstellen. Heute ist es in Holland schließlich kein Makel mehr, indonesische Verwandte zu haben. Im Gegensatz zu … « Sie brach ab.

»…deutschen.«, vervollständigte mein Vater ihre Überlegung grimmig.

»Außerdem braucht man in Indonesien nicht viel zum Leben«, setzte meine Mutter hinzu.
Das gab wohl den Ausschlag.

Innerhalb weniger Tage hatte mein Vater das Haus mitsamt Inhalt verkauft. Unsere persönlichen Sachen wurden eingelagert und mit drei Koffern stiegen wir in den Zug Richtung Amsterdam.

Es wurde eine sehr ungemütliche Reise. Mein Vater sprach kein Wort, sondern verkroch sich hinter der Zeitung. Meine Mutter starrte unablässig aus dem Fenster, trommelte mit den Fingern und gab mir auf meine vielen Fragen keine Antwort.

Die Rebellin von Mykonos – Leseprobe

PAROS

»Sie haben ihn vergiftet!« 

Der Schrei ihrer Mutter klang Mando Mavrojenous noch in den Ohren, als sie über die schmale Gasse an den Schweinen vorbei zum Hafen eilte, um einen Schiffer zu beauftragen, ihre Schwester Irini aus Tinos zu holen. Die Fischer hatten Sturm angekündigt, aber das Meer war noch ruhig, eine bleigraue spiegelglatte Fläche, die am Horizont eins wurde mit einem trostlosen Himmel.

»Beileid, mein Beileid.« Sie hörte die Zurufe, wandte sich aber nicht um. Sie wusste, dass die Nachricht vom Tod ihres Vaters inzwischen das letzte Haus von Parikia erreicht haben musste. Sie hatte schon geschlafen, als die Männer spät in der Nacht ihren Vater ins Haus trugen. Er atmete flach, als sie ihn auf die Bank im Wohnzimmer legten und ihrer Mutter mitteilten, dass sein Kopf während des Essens plötzlich in die Suppe gefallen wäre. Dabei habe er dem Landwein gar nicht so sehr zugesprochen, sagte einer der Männer. Der Schrei ihrer Mutter weckte Mando. Sie stürzte ins Wohnzimmer, sah den Arzt, der sich über ihren Vater beugte, und die Mutter, die, von der Dienerin Vassiliki gestützt, anklagend die Arme gegen fünf Männer ob, die mit aschfahlen Gesichtern neben der Tür standen.

Der Arzt richtete sich auf, blickte Mando in die Augen und schüttelte den Kopf. Wie erstarrt betrachtete Mando den leblosen Körper ihres Vaters. Sie sah im fahlen Schein der Lampen sein Gesicht bleicher werden, fast durchsichtig. Die strengen Falten um Nase und Stirn verschwanden. Mando erschrak vor dem wächsernen Gesicht, das sich in der Stunde des Todes verjüngte. Sie war das jüngste von fünf Kindern, ein Nachkömmling, und der Vater war ihr immer alt vorgekommen, ein gütiger, weiser Mensch, der ihr kaum einen Wunsch abschlagen konnte. Mit dem Vater war ihr Bundesgenosse gestorben.

»Haben sie ihn vergiftet?« Eine magere alte Frau zog Mando am Arme und sah sie aus neugierigen schwarzen Olivenaugen an. »Weil er das Land nicht verkaufen wollte?« 

»Lass mich los!«, rief Mando. »Ich weiß es nicht!«

Plötzlich war sie von Dutzenden von Menschen umringt, die wild auf sie einredeten, an ihr zerrten und ihr den Weg zum Hafen versperrten.

Ich hätte Vassiliki schicken sollen, dachte sie und wusste im selben Augenblick, dass es ihr lieber war, unter freiem Himmel von Menschen bedrängt zu werden, als der grauenvollen Atmosphäre in ihrem Elternhaus ausgesetzt zu sein. Schon in den frühen Morgenstunden waren die Krähen eingefallen – so hatte ihr Vater immer die wehklagenden, schwarz gekleideten Trauerweiber genannt -, hatten die Spiegel mit schwarzen Tüchern verhängt, sich laut schreiend um den langen Tisch geschart, auf dem ihr Vater aufgebahrt lag, und sich dann brüllend, singend oder vor sich hin murmelnd auf dem Fußboden niedergelassen. Mit aufgelösten Haaren warf sich Mandos Mutter Zakarati immer wieder über ihren Mann und schrie: »Wer wird dir jetzt den Kaffee bereiten? Wer wird dir jetzt dein Lieblingslied vorspielen?«
Angewidert hatte Mando ihre Mutter beobachtet. Wann hatte ihre Mutter schon den Kaffee selber zubereitet? Und hatte ihr Vater nicht ihr eigenes Klavierspiel dem der Mutter vorgezogen? Wie unwürdig sie sich benahm, sie, die Mando immer vorwarf, nicht die rechte Haltung und Würde für eine Tochter aus fürstlichem Hause zu bewahren. Wie peinlich war die Zurschaustellung ihrer Trauer! Wie konnte man überhaupt so bald trauern, wenn man doch noch gar nicht recht begriffen hatte, dass Nikolaos Mavrojenous nicht mehr war?

»Lasst sie in Ruhe! Schämt ihr euch denn gar nicht?«

Wie ein Peitschenschlag trieb der Ruf die Menschen auseinander. Dankbar blickte Mando auf und sah einen jungen Mann auf sich zukommen, der ihr entfernt bekannt vorkam.

»Mademoiselle Madon«, sprach er sie auf Französisch an, »welch ein Schlag für Sie! Ich weiß, wie nahe Sie Ihrem Vater gestanden haben.« Er verbeugte sich. »Jakinthos Blakaris aus Hydra« stellte er sich vor. Sein dicht gewelltes, hellbraunes Haar fiel über ihre Hand, als er sie küsste. Seine seltsam hellen Augen, die Mando an das Meer im Morgenlicht erinnerten, begegneten ihren dunkelbraunen. Noch nie hatte sie so lange und schön geschwungene Wimpern bei einem Mann gesehen.

»Als Kinder haben wir miteinander gespielt.«  Er nickte zum Strand hin. »Ich kann mir immer noch nicht vergeben, dass ich Ihnen damals Segeln beigebracht habe.« 

Jetzt wusste sie wieder, wer er war, und die Erinnerung lieg sie unwillkürlich lächeln. Sie sah sich als Elfjährige mit dem nur wenig älteren Jakinthos am Strand. Sein Vater, ein reicher Kaufmann und Reeder, war nach Paros gekommen, um mit ihrem Vater Geschäfte zu machen. Sie hatte Jakinthos zu einem Piratenspiel am Strand eingeladen, aber schon nach wenigen Minuten fand der Reederssohn ein Piratenspiel ohne Schiff langweilig. Sie wateten durch das flache Wasser zu einem kleinen Khaiki, lichteten den Anker, setzten das Segel und nahmen Kurs auf die offene See. Mando stand am Bug, hob die Arme und jubelte. Noch nie war sie sich so frei vorgekommen! Das Glücksgefühl währte nicht lange.
Im Schutz der Bucht von Parikia war von dem starken Meltemiwind nur wenig zu merken gewesen, aber
kaum hatte das Khaiki die Landzunge von Aghios Fokas umschifft, als das Boot bedrohlich zu schwanken begann. Obwohl der Junge ein geübter Segler war, fehlte ihm bald die Kraft, das Boot allein zu steuern. Er brüllte Mando an, ihm zu helfen, und mit vereinten Kräften glückte es ihnen, das Khaiki vor dem Kentern zu bewahren.

Mando stellte sich dabei so geschickt an, dass er ihr später ein natürliches Talent im Umgang mit Booten bescheinigte. Anstatt aber zurück in die sichere Bucht zu segeln, nahmen die Kinder Kurs auf Antiparos. Noch bevor sie die vorgelagerte Insel erreichten, prallten sie gegen einen Felsen im Meer. Das Boot lief schnell voll, aber es sank nicht, da Jakinthos es an einer Klippe festgebunden hatte. Sie wurden erst gegen Abend entdeckt, als sich der Meltemi gelegt hatte und die ersten Fischer wieder ausfuhren.

Als die beiden Kinder in Mandos Elternhaus abgeliefert wurden, erhielt Jakinthos von seinem Vater eine Tracht Prügel und Mando wurde von ihrer Mutter für einen Tag und eine Nacht in eine fensterlose Rumpelkammer gesperrt. Vassiliki, die wusste, wie sehr sich das Mädchen vor der Dunkelheit fürchtete, hatte ihr heimlich eine Öllampe zugesteckt. Als deren Schein auf jenen grünen Kasten fiel, den sie als kleines Kind einmal heimlich geöffnet hatte, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sie würde den Inhalt dieses Kastens nie vergessen.

»Wohin kann ich Sie begleiten? «fragte Jakinthos jetzt.

»Ich brauche ein Boot«, erklärte Mando und reichte Jakinthos ein Beutelchen. »Bitte finden Sie einen Fischer, der meine Schwester und ihren Mann aus Tinos holt.«

Jakinthos nahm das Beutelchen nicht. Er schüttelte den Kopf und wies auf den Himmel, über den inzwischen erste Wolkenfetzen jagten. »Kein Fischer wird jetzt sein Khaiki aufs Spiel setzen«, sagte er. »Es kommt ein Sturm auf.« 

Wie zur Bestätigung blähte ein Windstoß Mandos Rock auf und enthüllte ein Unterkleid aus Brüssler Spitze.

»Das ist mir egal«, sagte sie störrisch.

»Mir auch«, sagte er und nahm wieder ihren Arm. »Mein Schiff ist stabiler, ich werde Ihre Schwester holen.«

»Dann komme ich mit.« 

Er schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht noch einmal mit Ihnen Schiffbruch erleiden.«

»So dumm habe ich mich doch damals gar nicht angestellt.«

»Das stimmt.«

Die Marketenderin – Leseprobe

„Die Marketenderin – mit Napoleon in Russland“

Die Sonne war gerade aufgegangen, als die drei am nächsten Morgen aus der Hütte traten. In ihren Manteltaschen steckten die Reste des Kalbfleischs, und sie hielten sich an den Händen, als sie den Hügel hinunter auf die Brücken zuliefen. Das Gedränge schien noch wilder geworden zu sein als am Tag zuvor. Vor den Augen der drei Gefährten brach mit einem Mal die stärkere Brücke ein. Menschen, Wagen und Pferde versanken in den Fluten.

Die Marketenderin
Mit Napoleon in Russland

Die Fuhrwerke am Ufer wendeten und steuerten die andere Brücke an, die zum Übergang der Fußgänger bestimmt war. Menschen und Wagen drängten sich auf dem engen Pfad, Räder brachen und verstopften den Weg. Wütend stürzten sich die Nachfolgenden auf die Verunglückten, rissen sie ohne Erbarmen zur Seite und wurden beim Versuch, die Trümmer aus dem Weg zu räumen, selber von anderen Fahrzeugen überrollt. Pferde und Menschen stürzten übereinander, fürchterliches Geschrei erscholl. Selbst berittenen Gendarmen gelang es nicht, Ordnung zu schaffen.

Entsetzt sah Juliane, wie Menschen von Rädern zerquetscht und von Pferden zertreten wurden, immer mehr Frauen und Kinder in die Fluten stürzten, und der Zug auf der Brücke nicht voranzukommen schien. Sie blickte zu ihren beiden Begleitern, aus deren Gesichtern jegliche Farbe gewichen war.

»Warten wir bis zum Nachmittag!«, hörte sie Johannes brüllen. »Schaut da, die Pioniere richten die andere Brücke wieder her, vielleicht haben wir Glück und können später da rübergehen.«

Als die Brücke nach einigen Stunden wiederhergestellt worden war, zogen die drei, sich immer noch an den Händen haltend, in ihre Nähe, machten aber wieder kehrt, als ihnen klar wurde, dass in dem Gedränge immer noch die größte Gefahr bestand, erdrückt oder totgetreten zu werden.

Aber Kanonendonner und Gewehrsalven hinter ihnen rückten immer näher. Das Armeekorps, das ihnen Rückendeckung geben sollte, war zurückgewichen. Sie würden den Russen in die Hände fallen, wenn sie nicht schleunigst das andere Ufer erreichten, wo sich die dort gelandeten Truppen bereits mit den Russen Gefechte lieferten.

Juliane wandte sich um, sah einen unübersehbaren Tross von französischen Soldaten die Anhöhen hinunterlaufen und schrie: »Wir müssen es jetzt versuchen, die wollen auch noch rüber.«

Zertretene Leichname und gefallene Pferde, die sich in ihren letzten Zuckungen über noch lebende, gestürzte Menschen wälzten, bildeten ein beinahe unübersteigbares Bollwerk am Brückenzugang. Weinend, heulend, fluchend irrten Kinder, Frauen und Männer umher, ihre Gesichter von Schrecken und Verzweiflung gezeichnet.

Ganz in Julianes Nähe schlug eine Granate ein, die eine blutende Masse hinterließ. Als sich der Rauch verzogen hatte, sah Juliane, dass der Frau neben ihr die Füße zerschmettert waren.

Die gestürzte Frau zog ihr vielleicht dreijähriges Kind auf den Schoß, nahm ihr Strumpfband ab und erwürgte damit das Kind, bevor sie beide von den Hufen eines Pferdes zertreten wurden. Gewaltsam drängte Juliane mit den Männern nach vorn. Inzwischen konnte sie Johannes nicht mehr an der Hand halten, sie klammerte sich an seinen Mantelkragen und spürte Matthäus dicht hinter sich. Sie stiegen über zuckende Körper von Menschen und Pferden, berührten den Boden nicht mehr, sondern wurden von der Masse, die nach der Brücke strebte, getragen und geschoben. Endlich erreichten sie die schwankende, geländerlose Brücke.

Juliane sah und fühlte nichts mehr, außer Gerters Mantelkragen, in den sie sich festgekrallt hatte. Jemand zog an ihrem Umhang, sie schüttelte ihn mit aller Kraft ab, hörte einen Schrei und ließ Johannes los, als sie erkannte, dass sie Matthäus ins Wasser gestoßen hatte. Verzweifelt bückte sie sich, versuchte ihm die Hand zu reichen, wurde aber sofort selbst in den eiskalten Fluss gedrückt. Mit den Füßen berührte sie den schlammigen Untergrund, sah Matthäus gegen die Strömung ankämpfen und auf das Ufer deuten, von dem sie gekommen waren. Sie verstand: Lieber von den Russen gefangen genommen werden als im Fluss sterben.

Eine Kanonenkugel traf die Brücke, Menschen, Gerät und Holzbrocken stürzten ins Wasser, sie sah, wie Matthäus, von einem Balken getroffen, versank, und kämpfte sich zu der Stelle durch, wo er untergegangen war. Es gelang ihr, seinen Körper zu packen, und so schleppte sie ihn mit sich ans Ufer. Weit von der Brücke entfernt, stieg sie zitternd aus dem Wasser, Matthäus hinter sich herziehend.

Sie setzte sich ans Ufer, bettete den Kopf ihres Mannes in ihren Schoß und küsste ihn auf die Lippen. Seine Augen öffneten sich halb, aber sie sah das Leben langsam aus ihnen entweichen.

»Matthäus«, sagte sie eilig und legte seine rechte Hand auf ihren Bauch, »du wirst Vater.« Ein schwaches Lächeln erhellte sein Gesicht, und sie sah seine Lippen Worte formen. Sie beugte ihr Ohr zu seinem Mund und hörte: »Julischka … er soll Jakob heißen.«

Als sie wenig später von zwei Russen hart am Arm gepackt wurde, war Matthäus tot.

Die Gabe der Zeichnerin – Leseprobe

Vorbereitung

Woll‘n Herrscher ihren Ruhm der Nachwelt künden,
So mag es durch der Bauten Zunge wohl geschehn,
Siehst du die Pyramiden, wie sie unverändert
Trotz aller Zeiten Wechsel immer noch bestehn?
Sie sind ein Bau, vor dem die Zeit sich selber fürchtet.
Und alles hier auf Erden fürchtet sonst die Zeit!
Ja, wenn sie reden könnten, würden sie erzählen,
Was Menschen widerfuhr in Urvergangenheit.


Aus 1001 Nacht (die 398. Nacht)

Bagdad, Spätsommer 794

„Hierher, Jude!“

Der scharfe Befehl des Wesirs verhieß nichts Gutes. Isaak verfluchte seine Eitelkeit, die ihn am neu angelegten Teich des Kalifengartens hatte stehen bleiben lassen. Nicht etwa, um sich im stillen Wasser zu spiegeln – mit seiner äußerlichen Erscheinung hielt er sich nie über Gebühr auf -, sondern um sich an seinen Kenntnissen der arabischen Sprache zu erfreuen. Die Seerosen im Teich waren nämlich kunstvoll zu Schriftzeichen arrangiert. Sie priesen die Güte des Kalifen, wie Isaak gerade entziffert hatte, als ihn der Wesir aus seiner Betrachtung aufschreckte.

Für jeden Menschen, nicht nur für einen Juden, war es höchst ungewöhnlich und möglicherweise gefährlich, von Yahya ibn Kalid, dem mächtigen Vertrauten des Kalifen, höchstselbst herbeigerufen zu werden.

Isaak schickte ein stummes Gebet zum Himmel, dass es nicht um seinen Hals gehen möge. Nirgendwo auf der Welt, und er war viel herumgekommen, konnte ein Kopf mit weniger Federlesen vom Rumpf getrennt werden als hier in Bagdad. Die unbestrittene Güte und Großzügigkeit Harun al Raschids, der Sklaven aus dem Nichts in höchste Ämter erhob, konkurrierte nur mit seiner Erbarmungslosigkeit gegenüber jenen, die sein Missfallen erregten. Ein jeder konnte ohne Verfahren auf der Stelle gnadenlos zerschmettert werden.

Ich hätte die Waren im Palast abliefern und schnell verschwinden sollen, dachte Isaak, als er mit gesenktem Haupt auf Yahya zueilte, darauf achtend, die geometrischen Muster im Kiesel nicht mit seinen Füßen zu verwirren. Er sprach sich Mut zu. Die Pelze aus dem fernen Frankenland waren gewiss nicht räudig gewesen und die Bernsteinstücke aus dem Nordreich von funkelnder Klarheit. Möglicherweise hatten die kruden Verzierungen an den Langsax-Schwertern das Auge eines kunstsinnigen Würdenträgers beleidigt.

„Dir wird große Ehre zuteil, Jude“, verkündete Yahya, als sich Isaak unter dem Juwelen geschmückten Feigenbaum mit den zweifarbigen Früchten tief vor ihm verneigte. „Der Befehlshaber der Gläubigen, der Vater unseres glücklichen Landes, Allah sei gepriesen, gewährt dir die Gnade, dich anzuhören. Er will von dir alles über das barbarische Frankenland und seinen großen König wissen.“

Isaak erstarrte. Nur ein falsches Wort, dachte er, und ich bin erledigt.

„Eine unverdiente Ehre“, stotterte er. „Doch welche Nachrichten vermag ich unserem Herrn, dem edelmütigen Kalifen, zu überbringen? Ich bin doch nur ein nichtswürdiger Händler, der stets auf Reisen ist, von Reichsführung nichts versteht und den edlen König Karl nicht einmal von Weitem gesehen hat.“

„Du kennst immerhin seinen Namen“, erwiderte Yahya befriedigt. „Du hast dich in seinem Reich aufgehalten. Das sollte ausreichend sein. Eil dich, wir müssen Vorbereitungen für die Begegnung treffen.“

Frisch gewaschen, in neuer Kleidung und mit Wohlgerüchen besprenkelt, betrat Isaak wenig später an der Seite des Hadschibs, des Kämmerers, den vieleckigen, nahezu runden riesigen Empfangssaal im Palast der Ewigen Seligkeit. Die leisen Gespräche der zahlreichen Höflinge, die in Grüppchen beieinanderstanden, verstummten. Der prunkvoll ausgestattete Saal überwältigte Isaak, aber er gab sich große Mühe, dies nicht sichtbar werden zu lassen. Er warf einen kurzen Blick zu der riesigen Kuppel hinauf, die über ihm zu schweben schien. Zwischen unzähligen durchsichtig schimmernden Alabastersäulen mit kunstfertig gehauenen Kapitellen rankten sich aus großen Glasvasen prachtvolle Blumen empor. Deren Duft vermischte sich mit den Wohlgerüchen, die in dünnen Rauchwölkchen über flachen Schalen aus Achat und Jade aufstiegen. Der goldene Grund der mächtigen Kuppel war mit dem gleichen Bildermuster ausgemalt, zu dem auch der Kiesel vor der Palasttür verlegt worden war und das sich in den mit Glitzerfäden durchwirkten Teppichen wiederfand. An den Wandbehängen der oberen Galerie funkelten Juwelen auf farbenprächtigen Abbildungen, die wilde Tiere und das Leben des Kalifen in dessen früher Jugend illustrierten.

Unterhalb der Kuppel trennte ein Vorhang aus Goldbrokat einen Raum ab.

„Amir al-Mu’minin, Friede sei mit dir, Stellvertreter Allahs“, sprach der Kämmerer laut da hinein, wo der Stoff eine halbe Handbreit offen stand. „Ich bringe dir den weit gereisten Dhimmi Isaak. Er wird dir alles über jenen König Karl im Norden erzählen, dessen Vater König Pippin bereits mit deinem erlauchten Großvater, dem in unserem Herzen verankerten Dschafar al Mansur, den verderbten Unternehmungen der Omayyaden in Spanien und des Basileus in Konstantinopel Einhalt gebieten wollte.“

Isaaks Entsetzen stieg. Was wurde da von ihm erwartet? Er konnte höchstens vom Ausbau der Königspfalz zu Aachen berichten, von der er allerdings nur das bereits in kurzer Zeit völlig eingerußte Küchenhaus wirklich gut kannte. Darin hatte er sich länger aufgehalten, als er bei seinem letzten Besuch auf der fettigen Türschwelle ausgerutscht war und sich den Fuß verknackst hatte. Er konnte auch von dem derb angelegten Hofgarten erzählen, dessen Pflanzen ungeachtet ihrer Schönheit nur nach reiner Nützlichkeit angeordnet worden waren und die in der Kälte des Winters allesamt starben, von denen aber manche im Frühjahr wundersamerweise wieder aufblühten.

Als Reisender kamen ihm natürlich auch jede Menge Gerüchte zu Ohren, zum Beispiel die vom ausschweifenden Leben der schönen Töchter König Karls, ein wahrlich ungeeignetes Thema im Kalifenpalast. Oder die von Karls Liebe zu einer Gemahlin, die ihn offenbar verhext hatte. Von ihm, dem weit gereisten Juden, hatte sich des Königs Küchenmeister bei seinem letzten Besuch einen wirkungsvollen Fluch versprochen, um der an Zahnschmerzen leidenden verhassten Königin endgültig den Garaus zu machen. Isaak konnte es sich nicht leisten, irgendjemanden zu verärgern, und hatte einfach etwas vor sich hingemurmelt.

Als ihm der Küchenmeister am nächsten Morgen froh gestimmt versicherte, sein Spruch habe bereits Wirkung gezeitigt, da sich der Zustand der bösen Frau erfreulich deutlich verschlechtert habe, hatte sich Isaak schleunigst aus dem Staub gemacht. Auf dem Weg nach Südosten erwog er, als Nächstes das ferne China zu bereisen; ins Frankenreich wollte er vorerst nicht wieder zurückkehren. Legenden waren schnell geboren, und sollte Königin Fastrada wirklich sterben oder gar schon gestorben sein, konnte ein Wort des königlichen Küchenmeisters ihm zum Verhängnis werden. Zwar sterben auch die Katzen nicht daran, wenn die Hunde sie verfluchen, aber dieses Argument würde ihm im abergläubischen Norden kaum helfen. Juden traute man dort alles zu. In Bagdad zwar auch, aber hier wurde vor allem die Weisheit des Volkes geschätzt, das die Schriften besaß. Juden galten im Kalifenreich als Dhimmi, als Schutzbefohlene des Herrschers.

Der von ihm jetzt einen Bericht über das Frankenland erwartete. Doch woher sollte er, der Fernhändler Isaak, wissen, welchen Feldzug König Karl plante, welches Land sich dieser als Nächstes zu unterwerfen gedachte oder wie er über das Kalifenreich urteilte?

In seinem Kopf wollte sich kein einziger sinnvoller Gedanke formen, nicht einmal eine blumige Umschreibung für sein Unwissen. Seine Kehle war staubtrocken. Er wagte es nicht, sich zu räuspern.

„Der Jude sei mir willkommen“, forderte eine weiche Stimme Isaak auf, hinter den Vorhang zu treten.

Mit gekreuzten Beinen saß der junge Kalif auf dem Sarir, einer Art Prunkbett, das mit einem perlenbesetzten golddurchwirkten Seidenstoff bezogen war. Um seine zitternde Knie zu entlasten, hätte sich Isaak gern der Länge nach vor Harun al Raschid hingeworfen. Doch den Fußfall habe der Abbasidenherrscher aus dem persischen Hofzeremoniell noch nicht übernommen, hatte der Kämmerer bedauernd angemerkt und eilig hinzugesetzt, dies werde sich wohl demnächst ändern. Jetzt aber solle sich Isaak nur niederbeugen, dem Kalifen Hände und Füße küssen, danach einen Schritt zurücktreten und regungslos stehen bleiben, bis der erlauchte Herrscher das Wort an ihn richte. Während der gesamten Audienz dürfe er Kopf und Hände keinesfalls bewegen. Er müsse den Blick fest auf den Fürsten gerichtet halten und langsam sprechen, natürlich nur dann, wenn er gefragt werde.

„Nimm Platz“, sagte Harun zu Isaak und des Kämmerers Verblüffen. Nur ausersehenen Gästen wurde die Ehre zuteil, sich so schnell niederlassen zu dürfen. Der Kalif war offensichtlich guter Laune.

Wie hell seine Haut ist, dachte Isaak, als er sich auf den Boden hockte und bang auf die erste Frage wartete.

„Dieser König Karl des Nordens“, begann Harun, „hat er viele Frauen?“

„Nur eine“, antwortete Isaak erschrocken. „Wie der hochherzige Beherrscher des prächtigen Reiches der Abbasiden sicher weiß, ist den Christen nur ein Weib gestattet.“

„Man sollte nicht die guten Dinge, die Gott erlaubt hat, für verboten erklären“, erwiderte der Kalif kopfschüttelnd. „Es ist gewiss ungut, durch solche Auslegung der Schriften einer einzigen Frau so viel Macht zu verleihen.“

Da dies keine Frage war, durfte Isaak dazu schweigen. Wie jeder in Bagdad, so wusste auch er, dass sich Harun durch eine eigene Auslegung des Korans den mäßigen Genuss des Weins nicht entgehen ließ. Und dass seine erste Ehefrau Zubaida, die kleinen Butterflocke, allen Nebenfrauen zum Trotz über mindestens ebenso viel Macht verfügte wie der Wesir des Kalifen. Oder wie die finstere Königin Fastrada im Frankenreich über König Karl.

Nein, daran durfte er jetzt nicht denken.

„Es gibt drei Arten von Frauen“, dozierte der Kalif. „Erstens die gläubige, treu Liebende, die ihrem Gatten wider das Schicksal, nie aber dem Schicksal wider dem Gatten hilft. Zweitens die Frau, die sich nur um die Kinder kümmert und sonst um nichts. Und drittens schließlich jenes Weib, das eine Fessel ist, die Allah dem Mann auf den Nacken legt.“

Belustigt musterte er das immer bleicher werdende Gesicht seines Besuchers. „Sag mir, Jude, zu welcher Art gehört die Gemahlin König Karls?“

„Zur Ersten, wie ich annehme“, brachte Isaak hervor, froh, bei der Beschreibung der dritten Art von Frauen sein Nicken unterdrückt zu haben.

„Erzähle mir von ihr.“

„Sie ist von besonderer dunkler Schönheit und sehr viel jünger als der König“, sprach Isaak. „Es ist seine vierte Ehefrau …“ Fastrada war wirklich ein sehr unglückliches Thema. Doch dann kam Isaak die Erleuchtung, wie er mit einer kleinen Verbiegung der Tatsachen auf einen anderen Gegenstand ausweichen und gleichzeitig dem Kalifen würde schmeicheln können, „… und König Karl baut ihr gerade einen Palast.“ Er hatte sich in Aachen umgesehen und konnte zumindest die neuen Bauwerke der Königspfalz beschreiben – zu Gunsten der ungleich vornehmeren Architektur der Kalifenresidenz natürlich.

Die Augen des Kalifen begannen zu leuchten. Auch er hatte seiner Zubaida gerade einen neuen Palast errichtet; in Raqqa, wo er sich selbst in absehbarer Zeit niederzulassen gedachte. Gleich nach dem Juden würde er den verantwortlichen Baumeister Yussuf ibn Yakub rufen lassen. Ihn mit unermesslichen Schätzen belohnen, unter der Bedingung, seine beispiellose Kunst nie in den Dienst anderer, etwa wieder in den der Oströmer oder gar der Omayyaden zu stellen. Es gab Grund zu dieser Befürchtung; die Späher des Kalifen hatten im Hause des Baumeisters Vorkehrungen beobachtet, die darauf schließen ließen, dass dieser Bagdad endgültig zu verlassen gedachte.

„Erzähle mir von diesem Palast“, forderte Harun seinen Besucher auf.

„Er soll der Königsfamilie ein Zuhause bieten“, begann der Jude, „und Mittelpunkt der Verwaltung werden. Denn bisher ist König Karl nach Art der Beduinen von einem Ort seines riesigen Reiches stets zum anderen weitergezogen und hat, wie schon sein Vater, vornehmlich vom Sattel aus regiert.“

„Hat er keine Brüder, die ihn entlasten könnten?“

„Sein einziger Bruder ist gestorben.“

„Eines natürlichen Todes wie meiner, hoffe ich“, sagte der Kalif mit plötzlicher Schärfe in der Stimme.

„Genau wie deiner“, bestätigte Isaak. Was keinesfalls gelogen war, wenn man den verblüffend gleichlautenden bösen Gerüchten um die seltsamen Todesumstände der jeweiligen Brüder glaubte. Erst deren frühes und unerwartetes Ableben hatte beiden Herrschern ihre uneingeschränkte Macht beschert.

Der Aufforderung, die Königspfalz in Aachen zu beschreiben, kam Isaak gern nach. Bei seinem Vortrag verließ sein Blick nie das Antlitz des Kalifen. In diesem zeichnete sich angesichts der Schilderung von zwar wuchtigen, aber ansonsten kargen und weitgehend schmucklosen Bauwerken unverkennbar Enttäuschung ab.

Isaak brach der Schweiß aus. Hastig warf er ein, das künftige Prunkstück der Anlage solle ein besonders eindrucksvolles Gotteshaus werden. König Karl scheue weder Kosten noch Mühen, hierfür Baumeister aus allen Himmelsrichtungen nach Aachen zu berufen, um sich ihre Vorstellungen anzuhören.

„Er hat mit dem Bau seiner Moschee noch nicht einmal begonnen?“, fragte Harun ungläubig.

„Nein. Es heißt, er möchte seinem Gott einen ganz besonderen Tempel errichten, der die anderen Bauten seiner Pfalz in den Schatten stellt, ein so prächtiges Gotteshaus, wie es im Frankenland bislang noch keines gibt!“

Aus Furcht, jetzt zu viel Begeisterung für ein christliches Gebäude in seine Stimme gelegt zu haben, hob Isaak den Blick zur exquisit ausgemalten Kuppel, deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger seiner rechten Hand nach oben und setzte hastig hinzu: „Aber kein Franke wird je eine solche Kuppel wölben können.“

Sein letztes Wort war kaum verhallt, als sich Todesangst in ihm breitmachte. Innerhalb eines Wimpernschlags hatte er die Vorschriften gleich vier Mal übertreten: Er hatte den Blick vom Kalifen abgewendet, den Arm bewegt und die Stimme ungefragt heraussprudeln lassen.

Der Kämmerer neben ihm hielt immer noch die Luft an.

Dem Kalifen jedoch schien diese ungeheuere Verletzung der Etikette entgangen zu sein. Auch sein Blick ruhte auf der Wölbung der Kuppel.

„Da hast du zweifellos recht, Jude“, sagte er nachdenklich. „Aber es muss ja kein Franke sein.“

Der Kalif schwieg eine lange Zeit. Als er endlich wieder sprach, spielte ein Lächeln um seine Lippen.

„Außer dem Pfeil, der den Bogen verlassen hat, sind noch zwei weitere Dinge unwiederbringlich: das zu schnell gesprochene Wort und die verpasste Gelegenheit. Dein zu schnell gesprochenes Wort, Jude, sei dir verziehen, denn es weist mir den Weg zu einer Gelegenheit, die ich nicht verpassen werde.“ Er wandte sich an den Kämmerer. „Schaffe sofort Yussuf ibn Yakub herbei.“

Den fragenden Blick Isaaks beantwortete der Kalif mit einer Handbewegung, die ihm bedeutete, hocken zu bleiben.

„Du bist nicht verabschiedet, Jude“, sagte er, „denn du hast mir noch viel über diesen König Karl und sein Reich zu erzählen. Mein treuer Baumeister wird auch zuhören. Er soll alles wissen, was du auch weißt. Stelle dich gut mit ihm, denn ich werde euch auf eine lange gemeinsame Reise entsenden.“

Die Gabe der Zeichnerin – Nachwort

Den unzähligen Legenden und Geschichten, die sich um Karl den Großen und seine Pfalzkapelle ranken, habe ich mit viel Vergnügen eine weitere hinzugefügt; eine Mär mit einem wahren Kernbau, der auch zwölfhundert Jahre später noch in Aachen zu besichtigen ist. Und mit einer These, die man als höchst abenteuerlich abtun, aber historisch nicht grundsätzlich widerlegen kann: Warum sollte Harun al Raschid, Kalif von Bagdad, dem Frankenherrscher neben vielen anderen großzügigen Gaben nicht auch einen Baumeister geschickt haben?

Karl hätte das Geschenk bestimmt dankend angenommen und es sofort zur streng geheimen Verschlusssache erklärt. Sein Biograf Einhard hätte sich gehütet, der Nachwelt etwas kundzutun, was überhaupt nicht in sein Gesamtkonzept des großen christlichen Kaisers gepasst hätte. Am Bau der Pfalzkapelle soll Einhard selbst ja auch maßgeblich beteiligt gewesen sein, aber den Namen des Baumeisters erwähnt er in seiner Schrift Vita Karoli Magni nur ganz am Rande. Nichts steht darin, was diesen ansonsten gänzlich unbekannten Odo von Metz denn nun befähigt haben sollte, das ehrgeizigste Bauprojekt des Frankenkönigs zu verwirklichen. Eines, das seiner Zeit so weit voraus war, dass unter Historikern immer wieder Gerüchte kursierten, es könne gar nicht aus dem fränkischen Frühmittelalter stammen.

Es bleibt ein Geheimnis, wem es damals gelungen ist, diese steinerne Kuppel zu wölben; zu einer Zeit, da diese Kunst selbst in Byzanz schon Jahrhunderte zuvor in Vergessenheit geraten war. Als ich begann, an diesem Roman zu arbeiten, wurden gerade Eichenhölzer aus einem Ringbalken des Oktogons und einem Fundamentbalken dendrochronologisch untersucht. Dabei wurde zweifelsfrei nachgewiesen, dass die Pfalzkapelle tatsächlich auf der Schwelle zum neunten Jahrhundert gebaut worden ist. Nur wem ist diese Meisterleistung zuzuschreiben? Genau da setzt mein Roman an.

Denn wer unter Karls Kuppel die Atmosphäre auf sich einwirken lässt, kommt unweigerlich ins Grübeln. Die arabische Anmutung ist unübersehbar. Als ich an Die Beutefrau, dem zweiten Band meiner Karolinger-Frauen-Trilogie arbeitete, beschlich mich bei jedem Besuch im Aachener Dom so etwas wie ein schlechtes Gewissen, dass ich diesem Eindruck in jenem Buch keinen Raum geben konnte.

Als wir Jahre später wieder unter der Kuppel standen, erinnerte mich mein Mann an dieses Versäumnis und merkte an, mit einem Roman über den Dombau zu Aachen könnte ich wieder in meine historische Lieblingsepoche zurückkehren, jene Zeit wieder auferstehen lassen, in der auch meine Karolinger-Frauen-Trilogie spielt. Nach meinem Ausflug ins Hochmittelalter mit Die Kathedrale der Ketzerin hatte mich nämlich das Heimweh nach dem Frühmittelalter gepackt – aber was hätte ich noch über Karl den Großen schreiben können, das nicht schon längst zwischen zwei Buchdeckeln zu finden ist? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass in all den Jahrhunderten seit der Errichtung der Pfalzkapelle noch nie jemand in einem Roman versucht haben sollte, das Geheimnis um ihren Bau zu lüften. Immerhin ist der Aachener Dom das erste Denkmal in Deutschland überhaupt, das 1978 in die Liste des Welterbes der UNESCO aufgenommen wurde. Und doch fand ich keinen Roman zum Thema. Dafür stapelten sich bald die Sachbücher und Doktorarbeiten über die Marienkapelle in meinem Arbeitszimmer. Hin und wieder entdeckte ich darin einen kleinen Hinweis auf fremde Hilfe beim Bau. Anja Riedeberger schreibt in ihrer Hauptseminararbeit: „Die sichere Beherrschung der Wölbetechnik bei der Kuppel, für die es im Mittelalter bisher keine Bautradition gab, macht deutlich, dass die Pfalzkapelle nicht allein mit einheimischen Bauleuten entstanden sein kann … Auch die kunstvoll gegossenen Bronzetüren des Münsters können nur mit Hilfe von Handwerkern und Künstlern entstanden sein, die diese Fertigkeit ins Frankreich gebracht haben.“ Die Pfalzkapelle erinnere an „eine im Norden gestrandete orientalische Kathedrale“, fand ich in Will Durants Kulturgeschichte der Menschheit, und Besucher des Doms schwärmen im Internet von „maurisch angehauchten Torbögen“. Selbst der heutige Aachener Dombaumeister Helmut Maintz hielt meine Theorie bei Weitem nicht für so abenteuerlich, wie ich befürchtet hatte, als ich mit ihm Kontakt aufnahm.

Im Gegenteil; er fand meine Idee eines aus Bagdad stammenden Baumeisters „interessant“ und durchaus nicht zu verwerfen. Während der Restaurierungsarbeiten am Aachener Dom nahm er sich viel Zeit, meinem Mann und mir den Kernbau zu erklären. Wir lernten unter anderem, wie karolingischer Mörtel hergestellt wurde, welche Bedeutung die Ringanker haben, wie das Fundament dem Sumpf abgetrotzt wurde und wie man die Risse nach dem Erdbeben 803 mit Blei ausgegossen hatte. Helmut Maintz führte uns im eingerüsteten Wüstenturm bis hinauf unter die Kuppel, wo gerade das Mosaik erneuert wurde, und zeigte uns bei einem späteren Besuch auch das noch erhaltene ursprüngliche Teilmosaik am Boden, in dem man ohne sonderlich viel Fantasie den Mann mit dem Turban erkennen kann.

Mehr als zwei Jahre habe ich an diesem Roman gearbeitet. Für kein anderes Buch habe ich mir so viel Zeit gelassen und mit solcher Lust und Begeisterung solche Mengen an Material gesammelt. Ich baute ältere und aktuelle archäologische Entdeckungen ein; war begeistert, als ich erfuhr, dass zwei komplette Skelette, ein männliches und ein weibliches, im Fundament des Zentralbaus gefunden worden waren. Wie auch die merowingischen Ohrringe, die Bronzefibel und ein karolingischer Silberdenar, dessen Prägung darauf hinweist, dass das Fundament nach 794 gegossen worden sein muss.

Ezra kam ins Spiel, weil ich auch in diesem Roman nicht auf eine weibliche Hauptfigur verzichten wollte. Das aber bedeutete, dass ich mich sehr intensiv mit der Rolle der Frau im Islam des frühen Mittelalters auseinandersetzen musste. Auch dazu fand ich reichlich Rat und Lektüre. Ich las den Koran und mit großem Vergnügen noch einmal Tausendundeine Nacht in voller Länge. Drei deutschsprachige Ausgaben standen mir zur Verfügung; ich entschied mich unter anderem wegen der wunderbaren Gedichte für die Übertragung von Enno Littmann (Insel-Verlag).

Ich möchte mich bei all den vielen Menschen bedanken, die mich bei diesem Werk beraten und begleitet haben, ihr wisst, wer ihr seid. Einige möchte ich trotzdem herausheben: Ohne die Hilfe von Dombaumeister Helmut Maintz hätte ich mich nicht an dieses Thema gewagt, ohne die Aufzeichnungen aus der Studienzeit meiner alten Freundin, der Archäologin Dr. Cornelia Nippe, wäre mir das frühmittelalterliche Konstantinopel fremd geblieben, ohne meinen Nachbarn, den Sternengucker Jürgen Lemke, hätte ich nicht gewusst, wann im Mittelalter Vollmond war, ohne Carolin Gilbaya größere Schwierigkeiten mit Ezras Glauben gehabt, ohne die Kunsthistorikerin Dr. Regina Molden manches ausgelassen und ohne Ermutigung und technische Kenntnisse meines Mannes wäre ich nicht auf die Idee gekommen, diesen Roman überhaupt zu schreiben. Ohne Michaels Bereitschaft, so viel Zeit mit Ezra, Lucas und ihrem Kuppelproblem zu verbringen, hätte ich wohl kaum bis zum Schluss durchhalten können.

Kathedrale der Ketzerin – Nachwort

Meine Leser und Leserinnen mögen mir bitte verzeihen: Erstmals habe ich in einem Roman eine Hauptfigur erfunden – Clara. Allerdings hätte es eine solche Tochter des Grafen von Toulouse durchaus geben können; dieser Herr zeugte unzählige Bastarde, von denen sich viele den Katharern angeschlossen haben. Claras Weg war kein ungewöhnlicher für eine adelige Dame aus Okzitanien.

Ursprünglich sollte es in diesem Buch ausschließlich um Blanka von Kastilien gehen. Doch ich begriff im Verlauf der Recherche und des Schreibens, wie viele Blickwinkel ich zur Schilderung dieser unübersichtlichen, wirren und abenteuerlichen Zeit brauchte. Und so schlich sich Clara in die Geschichte ein, gewissermaßen die andere Seite jener Medaille, die Blanka heißt.

Alle anderen historischen Figuren haben gelebt, und an den geschichtlichen Fakten habe ich nicht gerüttelt, nur natürlich manches ausgeschmückt. Und sehr viele wichtige Persönlichkeiten und Ereignisse – vor allem jene, die den Zwist mit England betreffen – unerwähnt lassen müssen, weil dies sonst den Rahmen der Geschichte gesprengt hätte. Blankas Reise nach Rom habe ich – wie auch die Person der Lisette – erfunden, nicht aber die Tatsache, dass sie ein heimliches Gelübde abgelegt hat, von dem sie der Papst später befreite. Historiker grübeln heute noch darüber nach, um was es dabei gegangen sein mag. Als Romanautorin habe ich darauf eine Antwort gefunden. 

Der Beweis, dass Theobald König Ludwig vergiftet hat, ist nie erbracht worden, das Gerücht aber hält sich hartnäckig seit Jahrhunderten. Unstrittig ist seine ungeheuerliche Verehrung für Blanka, die er in zahlreichen Liedern dokumentiert hat. Sein ganzes Werk, dem Dante übrigens Tribut zollte, wurde 1851 von Prosper TARBÉ in der altfranzösischen Originalsprache veröffentlicht, zusammen mit einem ausführlichen Text über Herkunft, Leben und Taten des Grafen von Champagne und über seine Beziehung zu Blanka von Kastilien. Ich habe die Übersetzung einiger seiner Verse manchen Kapiteln vorangestellt, mir aber erlaubt, die Gedichte im Roman nach dem Muster höfischer Lyrik selbst zu verfassen. Der von ihm gestaltete Vertrag von Paris/Meaux gilt auch heute noch als juristisches Meisterwerk. „Und das in einer Zeit, in der die verschiedenen Fragen meist ohne große Logik und ziemlich verworren abgehandelt werden“, schreibt Règine Pernoud in ihrer großartigen Blanka-Biografie Herrscherin in bewegter Zeit
Als König von Navarra starb Theobald im Jahr 1253, ein halbes Jahr nach der von ihm so feurig verehrten Blanka. Die übrigens bis zu ihrem Tod allein regierte, ohne Kronrat oder andere Institution. Und eigentlich auch ohne ihren Sohn, den König. Wie der Historiker Gerd Treffer schreibt: „In der Praxis wird Ludwig der Vormundschaft seiner Mutter erst durch ihren Tod entrinnen.“ Blanka soll übrigens eine grauenhafte Schwiegermutter gewesen sein. 

Über eine Liebesbeziehung zwischen ihr und Raimund VII. von Toulouse gibt es historische Gerüchte zuhauf, aber keinerlei Belege. Außerdem wurde ihr ein Liebesverhältnis mit dem päpstlichen Legaten Frangipani nachgesagt, was ich aber angesichts ihrer gut belegten Frömmigkeit für unwahrscheinlich halte und daher nicht aufgegriffen habe. Raimund wird seinem Kreuzzugs-Gelübde erst im Jahr 1249 nachkommen, stirbt jedoch auf dem Hinweg. Die Ehe seiner Tochter Johanna mit Prinz Alfons galt als glücklich, blieb aber kinderlos.

Die geheimnisumwitterte alte Königin Ingeborg stirbt 1236 in Corbeil, wo sie auch bestattet wird.

Über die Katharer ist viel geschrieben und spekuliert worden, wiewohl sie selbst kaum schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben. Den umfassendsten Einblick in ihren Glauben und Alltag bietet ausgerechnet ihr ärgster Feind: Die Inquisition hat penibel Protokoll über die Prozesse geführt. Ich verweise jeden, der mehr über diese Glaubensgemeinschaft wissen will, auf die Bibliografie am Ende dieses Romans. Derzeit erleben die Katharer gewissermaßen eine Renaissance, wie ich auf meiner Reise durchs Languedoc feststellen konnte, wo mich überall auf Schildern das Land der Katharergrüßte. An dieser Stelle möchte ich mich bei meiner alten Schulfreundin Sabine Stenger bedanken, die in Carcassonne lebt und mir viele nützliche Hinweise gegeben hat. Dank gebührt auch meinen Freunden Brigitte Ahrens und Thomas Augustin, mit denen wir durch das Languedoc gereist sind und ein unvergessliches Gewitter im Schutz der Burgruine des Montségur erlebt haben. Ich danke auch Claude-Cyrill Laurent, der die erste Fassung des Manuskripts gelesen und nicht nur gewisse geografische Unstimmigkeiten richtig gestellt, sondern mir auch den Unterschied zwischen einem Troubadour und einem Trouvère erläutert hat (siehe Glossar). Dank auch an Roswitha Follmann, die alles über die Garderobe des Mittelalters weiß und an Gisela Leuer, die sich in Religionen aller Art bestens auskennt und mich beim Schreiben angefeuert hat. Natürlich gebührt meinen beiden Lektorinnen Christine Neumann und Anja Rüdiger ebenfalls Dank. Aber vor allem möchte ich mich bei meinem Lebenspartner Michael bedanken. Ohne seinen unermüdlichen Ansporn, seine Kritik, seine fundierten Ratschläge, seine Begeisterung für das Thema und seine Liebe wäre es mir erheblich schwerer gefallen, die Fülle des Materials zu einem Roman zu verarbeiten, dessen Schreiben mir viel Freude bereitet hat.

M.K. Januar 2011

Die Rebellin von Mykonos – Nachwort

Nachwort zur überarbeiteten Neuauflage von „Die Rebellin von Mykonos“

Auf der beliebten Touristeninsel Mykonos lebt Mando Mavrojenous (auch: Manto Mavrogenous) in der Erinnerung der Einheimischen und im Namen diverser Bars, Cafés und Hotels weiter. Auch jener zentrale Platz am Hafen, wo ihr – wie auch auf Paros und in Athen – ein Denkmal errichtet wurde, ist nach ihr benannt worden. Reisende konnten früher unbesorgt ihre Rucksäcke zu Füßen der hohen Büste legen, während sie auf Zimmersuche gingen. Deshalb hatte ich die Steinfigur zunächst für eine Schutzheilige des Eigentums gehalten. Erst sehr viel später erfuhr ich, wen sie wirklich darstellt und welche Bedeutung sie für die griechische Geschichte hat.

Die Idee zu diesem Roman aber reifte, als ich schon längst nicht mehr auf Mykonos lebte. Schweren Herzens hatte ich die Insel im Jahr des deutschen Mauerfalls verlassen. Auch für mich war es damals Zeit für einen Neustart gewesen. Also zog ich nach Amsterdam, baute mir dort eine Existenz als Übersetzerin auf und schrieb meinen ersten historischen Roman „Die Marketenderin“. Dieses Buch kam im deutschsprachigen Raum so gut an, dass ich mich darauf freute, einen weiteren Roman schreiben zu können. Am liebsten wieder über eine bemerkenswerte Frau und am allerliebsten über eine, die mich zumindest literarisch nach Griechenland zurückbringen könnte.

Da fiel mir die Büste am Hafen von Mykonos ein. Welche Geschichte steckte hinter dieser Frau, deren Bildnis in einem Land der Männerherrschaft auf einen Sockel gestellt worden ist? Ich kehrte für ein halbes Jahr auf die Insel zurück, die so lange mein Zuhause gewesen war. Dort wie auch später in Nauplia und Athen folgte ich den Spuren Mandos.

Langsam entfaltete sich dabei das Bild einer spannenden und zerrissenen Persönlichkeit. Mando hatte nicht nur der türkischen Besatzungsmacht den Kampf angesagt, sondern auch dem Verhaltenskodex, der das Leben der griechischen Frau einengte. Interessanterweise aber machte sie sich gerade manche dieser Konventionen zunutze, um ihrem Land zur Unabhängigkeit und sich selbst zu größerer Freiheit zu verhelfen.

Frauenleben in den 1980er Jahre auf der Insel Paros

Das fand ich nicht immer sympathisch, aber nachvollziehbar und durchgängig faszinierend. Schließlich hatte ich Anfang der Achtzigerjahre selbst erlebt, wie eingeschränkt sich noch damals das Leben der meisten einheimischen Frauen auf Paros gestaltete. So heftig sie im Familienkreis auch das Zepter schwenken mochten, außerhalb des Hauses hatten sie wenig zu melden, wenn man sie denn jenseits von Einkauf und Kirchgang je sah. Ich saß in ihren Küchen, wo sie mit grimmiger Lust und unübersetzbaren Ausdrücken Salatgurken in Scheiben hieben. Ungeschulte Mütter diktierten mir Briefe an die Verwandtschaft in fernen Landen, und ihre Töchter baten mich, ihnen Englisch beizubringen. Die Söhne sollen lernen, murrten die Mütter, doch diese hatten meist wenig Lust und wollten höchstens ein paar Phrasen aufsagen können, um Touristinnen anzumachen oder Hotelzimmer zu vermieten. Die Mädchen aber lernten wie besessen – beseelt von der Hoffnung auf ein Leben jenseits der Insel. Bildung war ihr Ticket in die Freiheit vom Zwang einer vorgezeichneten Zukunft. Sie löcherten mich mit Fragen. Und verstanden nicht, weshalb ich mich freiwillig auf jener Insel niedergelassen hatte, die sie um jeden Preis verlassen wollten. 

Eines Tages stellte mir eine junge verheiratete Frau eine Frage, die mich ungemein verstörte: „Warum lassen sich Touristinnen mit unseren Männern ein? Heiraten können sie die nicht und Geld nehmen sie dafür auch nicht. Ich bin froh, wenn mich mein Mann in Ruhe lässt, aber was haben die ausländischen Frauen denn bloß davon?“

Als mir dann noch auffiel, dass junge verheiratete Frauen den Verlauf der Zeit oftmals so markierten: „Das war nach meiner vierten … fünften … oder sechsten Abtreibung …“ suchte ich die Hebamme des Ortes auf, eine offene und aufgeklärte Frau aus Athen.

„Ärzte reden den Frauen ein, die Pille mache krank“, sagte sie. „Wenn die Frau schon einen oder zwei Söhne geboren hat, raten sie zur Abtreibung als Empfängnisverhütung. Das ist für den Arzt deutlich lukrativer.“ Sex, so bestätigte sie, betrachteten die meisten jungen Frauen ausschließlich als lästige eheliche Pflicht, der sie nachgehen müssten, um einen Sohn zu gebären. Denn wenn dieser irgendwann selbst heiratete, hatte sie mit einer Schwiegertochter zum Rumkommandieren die höchste Stufe der ihr möglichen Macht erreicht. Töchter waren nicht nur nicht erwünscht, sondern oftmals eine Katastrophe: Deren Mitgift konnte eine Familie ruinieren. Es gehörte sich nämlich, jede Tochter zur Hochzeit mit einem fertig eingerichteten Eigenheim auszustatten und den frischgebackenen Ehemann mit genügend finanziellen Mitteln für ein eigenes kleines Unternehmen. In manchen Familien legten sich Vater und Söhne hauptsächlich für die Aussteuer des weiblichen Nachwuchses krumm. 

Mittelalter, dachte ich, nicht wissend, dass ich viele dieser Erfahrungen Jahre später in einem historischen Roman verarbeiten würde, der im 19. Jahrhundert spielt.

Damals wollte ich sofort etwas tun. Also gründeten die verzweifelte Hebamme, meine Freundin Dina, eine gebildete Athenerin, und ich ein „Frauen-Kafenion“. Im Remezzo, der Bar von Dinas Ehemann, luden wir jeden Mittwoch die Frauen von Naoussa zu Vortrag und Gespräch ein. Mit Stick- und Strickzeug bewaffnet schlichen also junge Inselbewohnerinnen am Nachmittag in die ihnen bis dato nur von außen bekannte Bar, dahin, wo mancher Ehemann sonst Touristinnen ansprach.

Doch unserem Aufklärungsprogramm war nur ein kurzes Leben beschieden. Wer sprengte nach dem dritten Treffen die Versammlung? Die alten Frauen! Keifend trieben sie ihre Schwiegertöchter aus dem Laden und beschimpften uns, ihre Mädchen dem Verderben auszuliefern.

Kurz danach verließ ich Paros. Auf der kosmopolitischen Insel Mykonos sahen Leben und Lieben deutlich anders aus.

Als ich dann sehr viel später über Mando schrieb, war mir eins klar: Meine Heldin sollte auf jeden Fall Freude am Liebesakt haben, und das wollte ich deutlich schildern. Daran sind auch die Schwiegermütter von Paros schuld.

Meine eigene Mutter war über die expliziten Sexszenen in meinem Roman nicht glücklich. „Deshalb kann ich das Buch meinen Freundinnen nicht schenken“, klagte sie. „Die werden alle fragen, ob Martina das selbst so erlebt hat.“

Fakt und Fiktion
In der Nähe ihres Denkmals auf Mykonos befindet sich Mandos einstiges Haus. Es ist heute öffentlich zugänglich, da es die Inselbibliothek beherbergt. An der Wand kann man den weitverzweigten Mavrojenous-Stammbaum studieren. Da wundert es nicht, dass fast jeder Einheimische behauptet, mit Mando verwandt zu sein, und mir viele Mykoniaten mit großer Freude bei meinen Recherchen halfen.

Als ich mich Ende der Neunzigerjahre an meinen Roman setzte, war das Internet noch keine Hilfe. Ich sammelte meine Informationen also vor Ort. Mitarbeiter der Inselverwaltung freuten sich sehr, dass ich ihrer Heldin ein literarisches Denkmal setzen wollte, und überreichten mir die von ihnen herausgegebene damals gerade erst erschienene Biografie von Manouil Tassoulas über Mando. Als historischer Leitfaden war dieses Buch sehr wertvoll.

Doch hauptsächlich setzte ich mir vieles aus mündlich überlieferten Geschichten zusammen und erfuhr im Nebenlauf mehr über Sitten, Gebräuche und Legenden der Insel als in den acht Jahren, in denen ich mit den Mykoniaten zusammengelebt hatte. Endlich wusste ich, was hinter den Yaloudes-Puppen in den Touristengeschäften steckte und was es mit dem Riesen auf sich hatte, vor dem sich die Kinder fürchteten.

Mando war nicht nur eine reiche Aristokratin gewesen, die ihr gesamtes Vermögen dem griechischen Freiheitskampf geopfert hatte, sondern sie soll sogar als Kriegerin eigenhändig die Türken von Mykonos vertrieben haben. Und als ob das noch nicht genügte: Sie hatte tatsächlich in wilder Ehe mit dem Freiheitskämpfer Dimitris Ypsilanti zusammengelebt, den Respekt des in vielen Liedern immer noch besungenen alten Recken Kolokotrinis gewonnen und auf alle Konventionen der Zeit gepfiffen. Viele ihrer Landsleute fühlen sich heute noch schuldig bei dem Gedanken, dass diese beeindruckende Frau als Fußnote der griechischen Geschichte verarmt und vergessen gestorben ist. Erst nach ihrem Tod hat man sich ihrer Verdienste wieder erinnert und ihr auf Paros ein eindrucksvolles Leichenbegängnis gestaltet. 

Während in den Archiven keine Unterlagen darüber Aufschluss geben, wie Mando die Türken bei ihrem zweiten Ansturm von Mykonos verjagt hat, fand ich die Antwort gewissermaßen vor der Haustür: Als ich das Buch in einem Häuschen am – damals noch unverbauten – Strand von Kalo Livadi schrieb, deutete mein Vermieter aus dem Fenster und erzählte mir die Geschichte von der zum Dampfschiff verwandelten Felsengruppe. Die Steinhütte oberhalb des Strandes stammt tatsächlich aus dem 19. Jahrhundert und hätte Mando und Marcus durchaus als Liebesnest gedient haben können – wenn es denn diese Affäre wirklich gegeben hätte. Unwahrscheinlich ist sie nicht, aber Belege dafür waren natürlich nicht zu finden. Tatsache aber ist, dass Mando in Marcus‘ Haus auf Paros an Typhus gestorben ist.

Die Geschichte des englischen Lords und der einstigen seltsamen „Kurzheiratsgebräuche“ der Insel Mykonos entnahm ich der Schrift des Insellehrers, Historikers und Literaten Panayiotis Kouthasanas mit dem Titel: „Ein irischer Lord auf Mykonos, Delos und Rhenia im Jahr 1749“. Mando hat Dimitri Ypsilanti tatsächlich mit dem gleichen Trick hereinlegen wollen. Wenn man bedenkt, wie verzweifelt und mittellos sie damals gewesen ist, verübelt man es ihr vielleicht weniger.

Ich habe mich in diesem Roman streng an alle überlieferten Fakten und Daten gehalten. Und nur sehr wenige Figuren erfunden: Vassiliki (wiewohl Ali Pascha tatsächlich eine Gefährtin dieses Namens hatte), die Dienstboten in Nauplia, Hussein Pascha, sowie Selim und seine Frau. Fast alle anderen Protagonisten sind mir bei meinen Recherchen begegnet, sogar Marmellakis, der letzte Seeräuber von Mykonos. Dass Mando eine Tochter geboren hat, ist allerdings auch nicht verbürgt, aber darüber kursierten durchaus Gerüchte. Unstrittig ist, dass sie von ihrem Onkel auf Tinos für den Freiheitskampf rekrutiert und ausgebildet worden ist – zusammen mit dem armen Jakinthos. Auch ihre Entführung aus Nauplia und Zurückverfrachtung auf die Heimatinsel sind historisch belegt. Ihr Vater ist wahrscheinlich nicht ermordet worden, sondern starb wohl tatsächlich an einem Herzinfarkt. Der grüne Kasten allerdings ist ein Produkt meiner Fantasie. 

„Die Türken kommen!“

Vierhundert Jahre türkische Besatzung hinterlassen ihre Spuren. Vor allem im kollektiven Gedächtnis. Zurück zu den 1980er Jahren: Wenn damals irgendwo in der Ägäis ein türkisches Kriegsschiff gesichtet wurde oder es mit der Türkei Streit um eine Felseninsel oder Ölschürfrechte gab, brach auf Mykonos und den anderen Inseln Panik aus. Fassungslos beobachtete ich die Hamsterkäufe in den Märkten und hörte die Aufrufe an junge wehrpflichtige Männer.

„Die Türken kommen!“, wurde ich angefaucht, wenn ich vorsichtig darauf hinwies, dass sich wohl kaum zwei NATO-Staaten bekriegen würden. „Du verstehst das nicht!“ Die Angst ging um, Angst vor den Türken, die nur im Sinn hätten, ihr altes Osmanisches Reich wieder zurückzuerobern. Dieser Angst war mit rationalen Argumenten nicht zu begegnen. Auch nicht jenen Griechen, deren Namen auf -glou endete, was eine eigene türkische Herkunft mehr als nur erahnen lässt. Umso überraschter war ich, als der Vater meiner Freundin Zeta, ein selbst einst aus Kleinasien vertriebener Grieche namens Aristoteles, mir sagte: „Wir sollten eigentlich keine Probleme mit den Türken haben, im Verlauf der Jahrhunderte sind sie doch unsere Brüder geworden.“

Wie gut sich beide Länder verstehen können, zeigte sich, als sowohl die Türkei als auch Griechenland kurz nacheinander von Erdbeben heimgesucht wurden – und sich Bürger beider Länder spontan gegenseitig Hilfe leisteten. Ich bleibe zuversichtlich, dass die Türkei und Griechenland auch bei der Lösung der aktuellen Probleme gemeinsame Wege einschlagen werden.

Herzlich bedanken möchte ich mich bei den vielen Mykoniaten, die mich mit Anekdoten, Überlieferungen und Legenden versorgt haben. Suzy Hanioti half mir bei der Entzifferung von Mandos Briefen, und meine Freundin Zeta Bairaktari recherchierte in den Archiven von Nauplia und führte mich zu Mandos dortigen Domizilen. Zeta und den Menschen von Paros und Mykonos ist dieses Buch gewidmet.

Martina Kempff, Bergisches Land 2016

Die Marketenderin – Nachwort

„Die Marketenderin – mit Napoleon in Russland“; 
Nachwort zur überarbeiteten Neuauflage

Der Marketenderin habe ich sehr viel zu verdanken. Zu allererst natürlich mein Leben:
Auguste Juliane Assenheimer, die mit Napoleons Truppen nach Moskau zog, war meine Urururgroßmutter. Ohne sie hätte es mich also nicht gegeben.

Und ohne sie wäre ich vermutlich nie Schriftstellerin geworden. Diesen Berufswunsch hatte ich zwar schon als Sechsjährige geäußert, ihn aber nach vielen vergeblichen Anläufen jahrzehntelang ad acta gelegt. Ich war Mitte vierzig und arbeitete in Amsterdam als Journalistin und Übersetzerin, als plötzlich mit meinem entfernten Verwandten Gerhard Schreiber auch die Marketenderin und Johannes Gerter in mein Leben traten.

Schlage die Trommel und fürchte dich nicht
Und küsse die Marketenderin!
Das ist die ganze Wissenschaft,
Das ist der Bücher tiefster Sinn.

Heinrich heine

Gerhard Schreiber (1922–2007) stammte nicht nur ebenfalls von Juliane Assenheimer ab, sondern hat in vierter Generation als letzter Nachfahre genau jenen Verlag weitergeführt, den ihr Sohn Jakob Ferdinand, 1831 gegründet hatte.

Kurz bevor Gerhard in den Ruhestand ging und der I.F. Schreiber Verlag erstmals in familienferne Hände übergeben wurde, entdeckte er im Archiv das 1838 veröffentlichte Tagebuch eines württembergischen Leutnants, der den grausamen Feldzug 1812 überlebt hatte. Gerhard schlug mir vor, daraus einen Roman zu machen und ihn mit unserer gemeinsamen Familiengeschichte zu verknüpfen. Das Thema reizte mich, doch angesichts meiner früheren schlechten Erfahrungen mit eingesandten Manuskripten beschied ich ihm, ohne bindende Zusicherung eines Verlags niemals wieder ein Buch zu schreiben. Mein Cousin überredete mich, eine Leseprobe zu verfassen, mit der er dann bei rund fünfzig Verlagen vorstellig wurde und nur Absagen erhielt – übrigens auch von dem Verlag, der ein Jahr später viel Geld für die ersten Taschenbuchrechte zahlen sollte! Als einstiger Verleger hatte sich Gerhard Schreiber von Ablehnungen nämlich nicht so leicht abschrecken lassen und schließlich vom Weitbrecht Verlag in Stuttgart die Zusage erhalten. Da machte ich mich an die Arbeit.

Als Leitfaden diente mir das schmale Bändchen mit dem sonderbaren Titel „Die Württemberger in Russland – Denkwürdiges aus dem Jahr 1812“, das Gerhard in seinem Verlag ausgegraben hatte. Der Autor dieses unglaublich eindrucksvollen Zeugnisses eines wahnsinnigen Feldzuges und seiner grausamen Folgen musste Gründe gehabt haben, anonym bleiben zu wollen.

„Von einem Württembergischer Officier“ steht auf dem Buchdeckel, über den in Sütterlin handschriftlich „Johannes Gerter“ gekritzelt worden ist. Deshalb vermuteten wir hinter diesem Namen den Tagebuchschreiber, auch wenn wir ihn in den Archiven nicht unter den bekannten Überlebenden des Feldzugs entdecken konnten. Möglicherweise befürchtete der Autor Repressalien, da er in seinem Werk ohne jegliche Beschönigung Ross und Reiter nennt. Allerdings tut er sich selbst im Nachhinein durchaus schwer damit, Napoleon die Hauptschuld am Scheitern des wahnwitzigen Unternehmens zu geben. Er macht – wie andere mehr als hundert Jahre später im Zweiten Weltkrieg – das Klima für die Katastrophe verantwortlich: „Nun ging es von Moskau »rückwärts«, mit Eintritt des fürchterlichen nordischen Winters; die Summe aller Leiden sollte nun beginnen und in immer schrecklicherer Steigerung das schönste und zahlreichste Heer, das die Welt je gesehen, auf russischer Erde vertilgen!“

Der Sinnspruch auf dem Titelblatt verweist jedoch durchaus auf vorsichtige Kritik am französischen Kaiser: „Wen Jupiter verderben will, den verblendet er.“

Ich habe jedem Kapitel des Romans eine entsprechende Passage aus dem Tagebuch in der Orthografie des Originals vorangestellt. Eine allgemein verbindliche Rechtschreibung gab es damals noch nicht. Ja, nicht einmal eine individuelle: Der Autor handhabt beim gleichen Wort oftmals unterschiedliche Schreibweisen.

Ich muss allerdings gestehen, dass ich aus dramaturgischen Gründen ein einziges Mal den Originaltext verfälscht habe. Die ersten beiden Sätze im Vorspann zum letzten Kapitel stammen von mir: „Wäre auch das Ziel der Freiheit entfernter gelegen, so sicherte mir doch der längere Aufenthalt in Moskau eine angenehme und sorgenfreie Existenz. Wie es anderen gefangenen Cameraden andernorts erging, vernahm ich von russischen Offizieren, die im Hause Zimmermann ihre Aufwartung machten.“ Der Autor selbst war nämlich auch „andernorts“ in Gefangenschaft und ist erst sehr viel später nach Moskau zurückgekehrt. Manche Orte, die er im Tagebuch erwähnt, gibt es heute nicht mehr. Vielleicht sind sie gänzlich vernichtet oder umbenannt worden. Später hat sich auch mein französischer Übersetzer Claude-Cyrill Laurent mit diesen Namen herumgeschlagen – bis heute wissen wir zum Beispiel nicht, wo genau der im Tagebuch erwähnte Ort Evé sein soll. Ich habe ihn auch nicht auf alten Landkarten aufspüren können. Das Tagebuch kann heute übrigens im Württembergischen Landesmuseum in Stuttgart eingesehen werden.

Von den Beschreibungen der Kriegshandlungen, der Orte und Schreckenstaten habe ich nichts erfunden. Ich tauchte tief in die Geschichte dieses Feldzugs ein; auf meinem Schreibtisch stapelte sich jede Menge Literatur zum Thema. Herausheben möchte ich das vorzügliche Buch von Nigel Nicolson: „Napoleon in Rußland“ (Benziger Verlag), das wie gerufen genau in jenen Tagen in Deutschland herauskam, als ich mit der Arbeit an meinem Roman begonnen hatte.

Gerhard Schreibers Idee, die Ereignisse aus dem Tagebuch mit unserer gemeinsamen Familiengeschichte zu verbinden, stellte mich vor eine sehr schwierige Aufgabe. Es gibt zwar reichlich Material über den Sohn der Marketenderin Jakob Ferdinand Schreiber (siehe den Auszug aus den Memoiren meines Vaters), aber das Schicksal seiner Eltern liegt im Dunklen. Ich fragte in der Familie herum. Manche Nachkommen glaubten zu wissen, dass Matthäus und Juliane zusammen aus dem Krieg zurückgekehrt waren, andere hielten sich an vermeintliche Überlieferungen, beide seien an der Beresina umgekommen. Auch Gerhard Schreiber war zunächst von dieser Version überzeugt.

Leider lebte mein familienforschender Vater nicht mehr, als ich mit den Recherchen begann. Doch in seinem Nachlass fand ich einen Bezug zu einem Kirchenbucheintrag, wonach Auguste Juliane Assenheimer (Marketenderin) am 18.10.1823 in Ulm gestorben sein soll.

Sie ist also auf jeden Fall zurückgekehrt.

Die schlechte Quellenlage könnte einem überlieferten familiären Unbehagen geschuldet sein: Der Korporal und die Marketenderin hatten vor dem Feldzug den damals schon dreijährigen Jakob einfach in der Ulmer Kaserne zurückgelassen. Mit neun kam er in ein Militärwaisenhaus. Nach ihrer Rückkehr aus Russland soll sich die Mutter nie wieder um ihren Sohn gekümmert haben. Mein Vater schrieb dazu entschuldigend: „Sie war wohl sehr krank.“

Viel mehr hat er über die Assenheimerin auch nicht in Erfahrung bringen können. Meine Großmutter, die eine sehr feine Dame war und stets in höchsten Tönen von der Wichtigkeit ihres Großvaters sprach, konnte recht ungehalten werden, wenn mein Vater darauf hinwies, sie stamme von einer Marketenderin ab. Schade, dass beide nicht mehr erleben konnten, wie aus unserer Ahnin eine Romanfigur wurde.

Mit der Wirklichkeit hat die Juliane Assenheimer meines Romans also eher weniger zu tun. Ich gestehe hiermit, unsere Familiengeschichte umgebogen zu haben.

Hier sind die bekannten Fakten: Auguste Juliane Assenheimer war ehelich geboren und bereits zweiunddreißig Jahre alt, als sie mit ihrem Mann, dem Korporal Matthäus Schreiber, nach Moskau zog. Jakob wurde nicht – wie im Roman geschildert – in Moskau geboren, sondern am 6. 2. 1809 (genau 100 Jahre vor meinem Vater) in Schorndorf.

Die Liebesgeschichte zwischen Juliane und Johannes Gerter habe ich frei erfunden, um die Erzählstränge miteinander zu verbinden.

Wie im Rausch schrieb ich den Roman innerhalb von nur sechs Wochen fertig. („Das dürfen Sie niemals jemandem verraten“, hat mir damals mein Verleger zugeraunt.) Jede wache Minute saß ich vor dem mir damals noch recht neuen und unvertrauten PC. Wenn ich schlief, träumte ich die Träume der Assenheimerin. Hungernd und frierend stapfte ich durch tiefen Schnee, erschoss Menschen, die mir zu nahe kommen wollten, riss mit den Zähnen Fleisch aus sterbenden Pferden, versank in eisigen Fluten und verstand die Welt um mich herum nicht mehr. Lass es endlich Frieden werden!

Längst ging es mir nicht mehr nur darum, Schriftstellerin zu werden; ich musste diese Geschichte erzählen und diesen Feldzug überleben. Den Menschen in meiner Umgebung schauderte in jener Zeit vor mir. Ich muss mit glasigen Augen herumgeschlendert sein, Essen in mich hineingeschlungen und Scheußliches erzählt haben.

Mein Roman wurde ein großer Erfolg. Vier unterschiedliche Verlage haben im Laufe der Jahre die Ursprungsfassung veröffentlicht. Dabei ist die Rechtschreibreform mit ihren vielen Änderungen und Anpassungen über das Buch hinweggegangen: Es wurde von meiner noch alten in die ganz neue, in eine moderat neue, wieder in die alte und dann wieder in eine aktuellere Rechtschreibung gesetzt. Ich erschrak, als ich die im Weitbrecht Verlag erschienene Erstausgabe (1998) in Händen hielt. Die in Baden-Württemberg damals übliche extreme neue Rechtschreibung verzichtete fast gänzlich auf Kommata – was meine Bandwurmsätze sogar für mich gelegentlich nahezu unverständlich machte. (Im nächsten Roman „Die Rebellin“ wurden meine Sätze deshalb erheblich kürzer!) Es juckte mir schon damals in den Fingern, meinen Erstling zu überarbeiten. Doch ich war Schriftstellerin geworden, konnte sogar davon leben und musste deshalb jedes Jahr etwas Neues liefern.
Inzwischen habe ich sechzehn Romane geschrieben und viel dazu gelernt. Mir wurde immer wichtiger, die Feinheiten der Sprache herauszuarbeiten. Darauf hatte ich im Eifer des Schreibens bei meinem ersten Roman leider überhaupt nicht geachtet.

Schon deshalb war ich sehr beglückt, als mir der Ammianus Verlag die Gelegenheit bot, meinen ersten Roman zu überarbeiten. Am Inhalt habe ich nichts geändert, aber hier und da sprachlich einiges geglättet, Überflüssiges herausgenommen und Sätze eingekürzt. Das Abenteuer, mich nach fast zwanzig Jahren wieder um meinen Erstling zu kümmern, ähnelt vielleicht jenem, nach zwei Jahrzehnten einem vernachlässigten, aber dennoch geliebten Kind wiederzubegegnen. Man kann nicht alle Erziehungsfehler wieder gut machen, ist aber froh, dass es dennoch gut geraten ist, Spannendes aus seinem Leben erzählen und anderen Menschen Freude bereiten kann.

Martina Kempff, Bergisches Land 2015

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