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Die Teufelsbraut zu Aachen – Leseprobe

Kurztext (Leseprobe)

Der Teufel lebt – am liebsten in Aachen. Denn dort weilt Camena, die betörende Wassernymphe, der er seit Jahrtausenden verfallen ist. Als römischer Gott Faunus ist er ihr einst ins schweflige Sumpfland gefolgt. Endlich erzählt er selbst, weshalb er sich dort in den christlichen Höllenfürsten verwandeln musste. Doch nicht einmal als Teufel kann er Camena erobern. Ganz hoffnungslos wird es, als sie ihr Herz an einen Sterblichen namens Karl hängt, der später mit dem Beinamen der Große in die Geschichte eingehen soll. Der Teufel tobt und zieht alle Register. Mal möchte er den Bau des prächtigen Doms zum Seelenfang missbrauchen oder die Kirche zum Einsturz bringen, mal will er Karls Tochter ins Unglück stürzen, dann wieder lauert er nächtens als grässliches Untier auf Trunkenbolde. Mit List und Tücke jagt er Camena, aber sie und die Aachener lassen ihn auf der ganzen Linie scheitern. Bis heute. Doch jetzt soll einem gewissen Dr. Faunus in Aachen der Orden wider den tierischen Ernst verliehen werden …

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Knochen im Kehricht – Leseprobe

Prolog

oder

Der Anfang vom Ende

Der Dezembernebel hat die Grenze zwischen Deutschland und Belgien verwischt. Dennoch kann ich in der diffusen Beleuchtung vor der Einkehr drei fremde Fahrzeuge ausmachen. Ich widerstehe der Versuchung, mich mit dem geliehenen Allradmonster an diesem frühen Abend meines freien Tages danebenzustellen. Was mir sehr schwer fällt. Nicht, weil ich nachsehen will, ob Gudrun, David und Regine tatsächlich drei Wagenladungen voller Gäste bedienen, was bei solch garstigem Wetter zu so früher Stunde gar nicht schlecht wäre, sondern weil ich ganz gern die Stimmung zwischen ihnen peilen würde. Die war in den vergangenen Wochen nämlich ziemlich angespannt. Irgendetwas ist zwischen diesem Trio vorgefallen, das mehr als zwei Jahre lang reibungslos und freundschaftlich mit mir in meinem Laden zusammengearbeitet hat.

Nicht, dass plötzlich Streit ausgebrochen wäre, ganz im Gegenteil. Man geht ausgesucht höflich miteinander um, ein sehr bedenkliches Zeichen. Die üblichen Sticheleien bleiben aus. Ich vernehme keine dem Stress geschuldeten Bissigkeiten mehr, niemand knallt dem anderen irgendetwas hin oder vor, keiner tobt in der Küche, nicht einmal über Gäste wird gelästert, und alle tischen kommentarlos auf, was ich komponiere. Gerade das beunruhigt mich außerordentlich. Also ließ ich bei der letzten Menübesprechung einen Versuchsballon steigen und wurde sehr nachdenklich, als nicht ein Einziger Zeter und Mordio schrie. Ich hatte vorgeschlagen, unser – man beachte das beschwörende Gemeinschaftswort – Formenkünstler David solle ein Stück Schweinefleisch in Form eines erlegten Mannes mit Hut als Jägerschnitzel zurechtschnippeln, das man hübsch angerichtet mit Pilz-Ketchupsoße und einem Karottengewehr an Petersilienmoos servieren könne.

David hat deutsch-englisch herumgestottert und Gudrun mir allen Ernstes erläutert, dass die Fasern des Fleisches keine Möglichkeiten zu solch künstlerischer Entfaltung böten. Regine merkte entschuldigend an, wenn ein totes Tier auf dem Teller wie ein toter Mensch aussähe, würde niemand einen Bissen runterkriegen, und dann müssten wir alles wegwerfen, was doch unserer Philosophie der Bewahrung entgegenstünde. Das letzte Fünkchen Humor ist wie weggefegt, und das Lächeln meiner Bedienung so künstlich wie überall dort, wo ich nicht sein mag.

Alarmstufe Rot also. Was nur hat mein Dreierteam so aus der Fassung gebracht? Es gelingt mir nicht einmal, von der treuen Gudrun, die ansonsten nie etwas für sich behalten kann, ins Vertrauen gezogen zu werden. „Alles okay“, antwortet sie ständig; ein deutlicher Hinweis, dass überhaupt nichts okay ist. Meine Versuche, das vermutlich finstere Geheimnis dieser angespannten Freundlichkeit zu lüften, prallen an einer Wand des Entgegenkommens ab.

Die Atmosphäre in meinem kleinen Eifeler Gasthof an der Grenze zu Belgien erinnert mich an das Berlin, in das ich hineingeboren worden bin: Es herrscht kalter Krieg, und zwischen den Menschen ist eine Mauer errichtet worden. Jeder geht seinen alltäglichen Verrichtungen nach, aber keiner scheint sich in seiner Haut wohl und sicher zu fühlen. Man belauert sich gegenseitig; fragt sich, ob man einfach abhauen kann oder ob der andere einen etwa im Stich lassen wird, weil er nicht auf neue Rosinenbomber vertrauen mag, die, wie man ja heute weiß, auch Napalm abwerfen könnten. Aber immerhin ist der Ami noch da, nämlich David. Der wird schon nicht zulassen, dass das Böse das neu Zusammengewachsene entzweit; er ist das Bindeglied zwischen den beiden Frauen, was eine vielleicht unglückliche, aber dadurch nicht weniger zutreffende Formulierung ist.

Da in meiner Gegenwart nichts ausgesprochen wird, bastele ich mir eine eigene Erklärung zurecht: David erwägt die Flucht aus einem Eifeler Leben, das er sich anfangs wohl angenehmer vorgestellt hat, Regine neidet ihm diese Freiheit und hat vielleicht gar Ansprüche angemeldet, während sich Gudrun vermeintlich behaglich eingerichtet hat, die Bedürfnisse der beiden anderen ignoriert und betet, dass sich bloß nichts ändern möge.

Mit Engelszungen habe ich vor zwei Jahren auf die Drei eingesäuselt, um ihnen das Zusammenziehen auszureden. Es schaffe doch nur Unfrieden, Berufliches und Privates derart zu vermischen, hatte ich gesagt und musste mir dann gefallen lassen, ausgelacht zu werden. Was sie bei mir verdienten, reichte selbst in diesem abgelegenen kostengünstigen Teil der Schnee-Eifel, kurz Schneifel genannt, nicht für eigene Wohnungen. Warum sollte man sich den Kopf über ein anderes Dach machen, wenn man ein geräumiges leer stehendes Haus zur Verfügung habe – zugegeben, ein Haus mit einer sehr bösen Geschichte. Aber Gudrun ist darin aufgewachsen und ihr Lebensgefährte David hat es geerbt. Regine, die Mutter seines Sohnes, der gerade in den USA das Studium der Tiermedizin aufgenommen hat – oder aufgeholt, wie sie als Eifelerin sagt, kann darin auch noch ihren neuen Freund unterbringen; falls sich dieser je dazu aufraffen könnte, die Wohngemeinschaft mit seiner resoluten älteren Schwester Frieda in Buchet aufzugeben. Die im Übrigen darin auch noch Platz finden könnte, aber dann bestimmt das Kommando übernehmen würde. Schwer vorstellbar, dass sich Gudrun sagen lassen würde, wann die Fenster geputzt werden sollten.

Das Haus sei groß genug, um sich darin aus dem Weg gehen zu können, hatte David gesagt, als sie noch zu dritt waren. Und Regine hatte darauf hingewiesen, dass sie nur so ihr Geld zusammenhalten könnten. Unvorsichtigkeit bei privaten Ausgaben kann zu Mord und Totschlag führen. Das haben wir alle vor zwei Jahren hautnah miterlebt, vor allem Hein und Jupp. Die beiden sind erst heute Mittag von ihrem langen Mykonos-Aufenthalt zurückgekehrt und werden über den allgemeinen Stimmungsumschwung bestimmt genauso erschrocken sein.

Womöglich haben sie den sogar schon mitbekommen, als sie heute Mittag vor der Einkehr Heins Rote Zora abgeholt haben. Der Sportwagen, den sie mir während ihres Urlaubs wegen der Unzuverlässigkeit meines eigenen Uraltgefährts zur Verfügung gestellt haben, eignet sich allerdings nicht zum Transport von Weinkartons aus Cochem. Deshalb war ich zwar durchaus dankbar, als mir Karl-Heinz Jenniges gestern das Ungetüm zum mehrtägigen Probefahren vor die Tür gestellt hat, aber ich sagte ihm gleich, dass ich dieses Angeberauto nie im Leben kaufen würde. Karl-Heinz blieb unbeeindruckt. Vierradantrieb brauche man in diesem Teil der Eifel nicht zum Angeben, beteuerte er, sondern zum Durchkommen. Ich würde schon sehen. Für die nächsten Tage seien schließlich heftige Schneefälle angekündigt. Er könne es nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren, meinem dem Tod geweihten alten Auto mit ständig neuen Ersatzteilen künstlich das Leben zu verlängern.

Zugegeben, in diesem Wagen ist die Fahrt nach Cochem so komfortabel gewesen, dass ich meinen Plan, dort zu übernachten, spontan über den Haufen geworfen habe. Auch weil Marcel nicht mitgekommen und Herbert in seinem Hotel mit einer Hochzeitsfeier zu beschäftigt gewesen ist, um Zeit für ein Schwätzchen zu haben. Ich lenkte also gleich nach meiner Einkaufstour das Monster wieder heimwärts.

Und biege jetzt links von der B 265 auf belgisches Hoheitsgebiet ein. Vor meinem alten Bruchsteinhaus stelle ich den Motor ab; immer noch unschlüssig, ob ich nicht doch die Bundesstraße überqueren und in Deutschland nach dem Rechten sehen sollte.

Dann fällt mir wieder ein, was mir Marcel gestern gesagt hat, als ich Zweifel äußerte, ob ich mir angesichts des unerfreulichen Betriebsklimas heute wirklich freinehmen sollte: „Du musst mal lernen, nicht immer alles kontrollieren zu wollen.“

Er hat recht. Den Wein aus Cochem kann ich auch morgen im Restaurant abladen; er braucht nach der langen Fahrt vermutlich genauso viel Ruhe wie Linus Auslauf. Der schwarze Riesenhund beginnt schon ungeduldig zu bellen. Während der ganzen Fahrt hat der Labrador mit den zusätzlichen Staffordshireterrier-Genen höchstens fröhlich gefiept, weil er neben mir sitzen durfte, womit ich fünfzig Euro Bußgeld und drei Punkte in der Verkehrssünderkartei Flensburg riskiert habe, dafür aber im Kofferraum mehr Weinkartons unterbringen und Linus beglücken konnte.

Während ich für den Privatgebrauch eine Flasche aus einem Karton ziehe, hebt der Hund kurz das Bein an meiner neu eingepflanzten Birke. Dann rennt er mir voraus, stößt mit der Schnauze die Tür auf und verschwindet im Haus. Ich schicke einen wütenden Blick über die Straße. Wer hat da wieder einmal nicht abgeschlossen? Und schlimmer noch, die Tür nicht einmal richtig zugezogen! Das ist ja wohl das Mindeste, was ich verlangen kann, wenn jemand in meiner Abwesenheit mein Haus betritt! Oder sollte der Ofenbauer doch gekommen sein und am Kamin arbeiten? Aber wo hat er sein Auto gelassen? Außerdem müsste dann im Haus Licht brennen.

Laut bellend stürmt Linus wieder hinaus. Er stößt mich fast um, als er wie vom Teufel gejagt über die Bundesstraße zur Einkehr hetzt. Was ist mit dem Tier los? Seit wann stürzt es sich nach einer Fahrt des Darbens nicht als Erstes auf die in der Küche bereitstehenden Leckerlis?

Noch beschleicht mich keine böse Ahnung. Die kommt erst auf, als ich sehe, dass die Wohnzimmertür sperrangelweit offensteht. Wegen der staubigen kleinen Baustelle halte ich sie jetzt immer verschlossen.

Ungehalten knipse ich das Licht an.

Schock überwältigt mich. Die Flasche rutscht mir aus der Hand und schlägt polternd auf die Holzdielen auf. Ich sinke ebenfalls zu Boden. Meine zitternden Knie können den Doppelzentner meines Leibes nicht mehr tragen. Ich versuche, mich aufzurichten, schaffe es aber nur auf alle viere, recke den Kopf weit vor und schnappe nach Luft.

Diese Schuhe, denke ich nur, warum müssen es ausgerechnet diese Schuhe sein.

Ich kann meinen Blick nicht von diesen Schuhen lösen. Sie lugen unter meiner großen weißen Mohairdecke hervor. Diese ist um einen menschlichen Körper gewickelt, mit Paketband fest verklebt und am Kopfende blutrot eingefärbt. Darunter gibt es kein Leben mehr.

Das tote Bündel liegt transportbereit vor dem Loch in der Wand. Da, wo mein Kamin hinkommen soll, da, wo wir vor vielen Wochen einen grausigen Fund gemacht, die Überreste eines Menschen entdeckt haben, der vor über einem halben Jahrhundert nach seiner Ermordung dort eingemauert worden ist.

Ich starre auf die Schuhe. Die hat kein fremder Unbekannter getragen. Einer von uns ist ermordet worden, einer aus meinem engsten Kreis. Ich kenne diese Schuhe.

Wie auch die Stimme aus dem Flur, die durch die Stille des Hauses peitscht: „Katja! Nicht in Cochem? Was machst du denn schon hier?“

Ich will schreien, aber ich bringe keinen Ton hervor.

Kehraus für eine Leiche – Leseprobe

Erschrecken

Mittwochnachmittag

„Möchten Sie ein Huhn adoptieren?“

Die Stimme klingt weich, weiblich und sehr jung. Dennoch jagt sie mir einen Todesschreck ein. Ich habe keinen Menschen herankommen hören. Niemals wäre ich vor meinem Restaurant auf die Leiter gestiegen, wenn ich irgendjemanden in Sichtweite vermutet hätte. Zentnermenschen wie ich vertrauen ihr Gewicht ohnehin nicht gern ansteigenden Sprossen an. Aber mir bleibt keine Wahl. Weil das immer noch schief hängende Restaurantschild meine Mitarbeiter nicht zu stören scheint, werde ich es eben selbst gerade rücken müssen.

An diesem ungewöhnlich freundlichen Frühlingstag Ende April rechne ich mit keiner Windhose, die mich herabschleudern könnte. Wiewohl ich sehr gut weiß, dass hier in der Schnee-Eifel, kurz Schneifel genannt, nicht nur jede von mir bestiegene Leiter, sondern auch das Wetter sehr schnell umschlagen kann. 
Wenn die Einkehr morgen endlich aufmacht, soll alles perfekt sein. Schließlich habe ich lange genug auf dieses Ereignis warten müssen. Nicht nur Behördenquälereien, sondern vor allem Gewaltverbrechen scheußlichster Art hatten die Eröffnung meines speziellen Feinschmeckerrestaurants immer weiter hinausgezögert.

Aber da nicht nur meine Zukunft, sondern auch die meiner Freunde vom Erfolg der Einkehr abhängt und ich zudem aus statistischen Gründen davon ausgehe, dass in diesem Flecken namens Kehr für Jahrhunderte im Voraus genug gemordet worden ist, bin ich hier an der deutsch-belgischen Grenze geblieben. Mit dem Restaurantschild hat Jupp heute früh unsere Zukunft festgenagelt.

Nur leider schief. 

Ästhetisch und symbolisch verstörend. Darum bin ich in die Luft gegangen.
Aus der ich jetzt äußerst vorsichtig hinabsteige.

„Wie bitte?“, frage ich, als ich wieder meinen eigenen festen Grund unter den Füßen habe.

Vor mir steht ein streng bezopftes blondes Mädchen in einem viel zu umfänglichen geblümten Kittelkleid, das in den Fünfzigerjahren wohl der letzte Schrei gewesen sein mag. Unter dem absurden Gewand lässt die Frühlingsbrise eine sehr zierliche Figur erahnen. Ein solches Bauernkind habe ich hier noch nie gesehen. Es hält mir ein Papptablett mit Eiern hin und wiederholt die Frage, die mich erschreckt hat: „Möchten Sie ein Huhn adoptieren?“

In der Schale?“, gebe ich prompt zurück und streichele ein braunes Ei.
„Natürlich nicht“, flüstert das vielleicht fünfzehnjährige Mädchen, wird knallrot und verstummt. Offensichtlich pubertäre Verlegenheit. Erst als sie mich fast flehentlich ansieht, fällt mir auf, wie ausnehmend hübsch das so unvorteilhaft hergerichtete Geschöpf ist. Eine zarte exquisit erblühte zarte Schönheit, bei der sich bereits klassische Züge ähnlich denen einer Diva der Kinofrühzeit abzeichnen.

Kein Modefotograf würde an einer solchen Versuchung vorbeigehen können, ohne ihr mit ein paar aufmunternden Worten seine Visitenkarte zuzustecken. In meinem früheren Leben als Moderedakteurin für ein Hochglanzblatt ist mein Blick für das optisch Besondere im Alltäglichen aufs Feinste geschärft worden. Dieses Engelsgesicht ist eine Sensation. 

„Wenn du einen Witz machst, darf ich das auch“, gebe ich sanft zurück. Ich überlege, ob es nun ein Segen oder ein Fluch ist, dass die großen dunkelblauen Augen unter diesen Nerzhaar-Wimpern nur Kuh bestandene Weiden und menschenleere Weiten erblicken müssen. 

„Es ist kein Witz. Wenn Sie ein Huhn adoptieren, schenkt es Ihnen jeden Tag ein Ei“, erwidert sie.

„Schau mal“, sage ich, deute nach oben auf das Schild und sehe gleich wieder weg. „Das hier ist ein Restaurant. Was nutzt mir da ein einziges Ei am Tag?“
„Eben!“, bestätigt das Mädchen. „Wenn Sie zehn Hühner adoptieren, kommt Sie das im Monat günstiger als wie jeden Tag zehn Eier woanders zu kaufen.“
Vorsichtig stellt sie das Eiertablett auf einem der beiden Gartentische am Eingang ab.

„Genauso stelle ich mir mein Restaurant vor“, sage ich kopfschüttelnd, „Unter jedem Stuhl scharrt ein Huhn.“

„Nein, nein“, sagt die schöne junge Hühneradoptionsvermittlerin, „die Tiere bleiben bei uns; Sie müssen sich um gar nichts kümmern, und die Eier bringe ich Ihnen jeden Tag selbst her. Ein Huhn kostet zehn Euro im Monat, zehn Hühner sind 80 Euro und zwanzig Hühner 150 Euro. So viel Bioeier im Laden kosten …“

„… mehr“, erwidere ich nickend, ohne nachzurechnen. Als Schwan unter Hühnern. So ähnlich könnte die Schlagzeile lauten, mit der meine Ex-Kollegen vom Boulevard den sicheren Sieg dieser Eifelerin beim Model-Casting feiern würden.

„Und Sie tun ein gutes Werk, wenn Sie unseren Gnadenhof unterstützen.“
Nein, ich täte kein gutes Werk, meinen alten Kontakten dieses Landei zum Fraß vorzuwerfen. Die Branche würde sie kaputt machen, ihr vermutlich in jederlei Hinsicht die Unschuld rauben. So etwas darf ich nicht auf mein Gewissen laden. 

Gnadenhof, hat sie gesagt. Also wohnt das Mädchen in Gudruns altem Haus ein paar hundert Meter weiter. Es gehört jetzt David, dem Mann aus Texas, der im vorigen Jahr herkam, um jenes Eigentum wieder in Besitz zu nehmen, das seiner Familie von den Nazis gestohlen worden war. Wir hatten seine Mutter zwei Jahre zuvor als legitime Erbin ausfindig gemacht und ihr den Hof übereignet, den ich durch Unrechtshandlungen anderer geerbt hatte. Und auf dem meine Freundin Gudrun aufgewachsen ist.

Gudrun hat sich vor fast zwei Jahren in einer Hinterkammer meines Restaurants häuslich niedergelassen und wird ab morgen in der Einkehr den Gästen die Gerichte vorsetzen, die ich komponiere. Gudrun ist sehr tüchtig und von angenehm ausgeglichenem Gemüt – wenn sie nicht gerade einen der grausamen Schicksalsschläge einstecken muss, von denen sie gebeutelt wird. Dann putzt sie.

Vor kurzem ist David bei ihr eingezogen. Er ist immer gut gelaunt und zeichnet sich durch erstaunliche Bedürfnislosigkeit aus. Mit den Worten, er wisse noch nicht, ob er sich auf lange Sicht in der Eifel einrichten wolle, zerstob er allerdings Gudruns Traum von der Rückkehr in ihr altes Elternhaus am Arm des Mannes, dem es jetzt gehört. Als er vor drei Monaten ankündigte, den Hof einer armen Bauernfamilie zu verpachten, deren eigenes Anwesen wegen der dramatisch gesunkenen Milchpreise zwangsversteigert wurde, hatte Gudrun mit Engelszungen auf ihn eingeredet.

„Mit einem Gnadenhof gehen die sofort wieder bankrott! Wer zahlt schon gutes Geld für schlechte alte Tiere? So etwas hat in der Eifel keine Zukunft“, sagte sie. Die beschwörende Betonung, die sie auf das Wort Zukunft legte, ließ uns alle erschauern. Jeder Ansatz, sich ihren Traum von einem Mann fürs Leben zu verwirklichen, ist bisher in eine Katastrophe gemündet, an deren Ende mehr als nur eine Leiche zu beklagen war. 

Die Kleine mit dem Eiertablett sieht aus, als würde sie zu Hause Ärger kriegen, wenn sie mit ihrer Adoptionsmission scheitert.

Ich stehe wieder auf und mustere die mittelgroßen Eier. Von alten ausgemusterten Hühnern? Wohl eher von Hennen, denen der Gnadenhof ein Dasein in der Legebatterie erspart hat. 

„Wie heißt du?“, frage ich.

„Pia“, antwortet sie und setzt zögerlich hinzu: „Prönsfeldt“.

Den Namen könnte sie nach Streichung des Umlauts als Model glatt behalten.
„Wir sind die Pees“, erklärt Pia. Ein bitterer Unterton schwingt in ihrer Stimme mit. „Mein Papa heißt Paul, meine Mama Petra und meine Schwester Patti, eigentlich heißt sie Patrizia. Blöd, nicht?“

„Es gibt Schlimmeres“, sage ich leichthin. „Ich habe auch die gleichen Anfangsbuchstaben. Katja Klein. Wenn ich einen Mann namens Klaus geheiratet und der meinen Nachnamen angenommen hätte, hätten wir unsere Kinder Karl und Katharina nennen können; das wären dann unsere Großen und wir gemeinsam die Kaas gewesen.“

Zum ersten Mal schleicht sich ein Lächeln in das bisher so ernste und fast ängstlich wirkende Gesicht. Auf dem Wochenmarkt hat dieses Mädchen bestimmt noch nie gestanden.

„Sind Sie aber nicht.“

„Nein. Wie alt bist du, Pia?“

Sie zögert.

„Gerade achtzehn geworden“, flüstert sie schließlich.

Das überrascht mich, ich hatte sie auf höchstens Fünfzehn geschätzt.

„Oh, Entschuldigung, da muss ich ja Sie sagen.“ 

„Nee, nee, ist schon gut so“, wehrt sie ab. „Meine Schwester und ich werden immer für jünger gehalten.“

„Später werdet ihr euch darüber freuen.“

„Ich weiß nicht.“ 

„Ist deine Schwester jünger oder älter?“

„Ein Jahr älter.“

„Dann seid ihr euch wohl sehr nah?“
Sie antwortet nicht.

„Ich hätte gern eine Schwester in meinem Alter gehabt“, sage ich, „aber ich war ein Einzelkind.“

„Muss schön gewesen sein.“

„Versteht ihr euch denn nicht?“

„Doch, doch“, antwortet sie eilig. „Meine Schwester ist meine beste Freundin.“
Klar, denke ich, sie sind neu hier und in der Nachbarschaft gibt es kaum jemanden in ihrem Alter.

„Aber du hast auch einen Papa“, fahre ich fort. „Ich hatte leider keinen.“

„Es gibt Schlimmeres“, gibt sie mir ohne ein Lächeln meine Worte zurück. Eilig setzt sie hinzu:
„Möchten Sie nun die Hühner adoptieren?“

„Wie viele habt ihr denn?

„Weiß nicht genau, dreißig, vierzig. Und einen Hahn.“

„Natürlich. Und was habt ihr denn noch für Tiere?“

„Vier Pferde, ein Muli, einen Pfau, zwei Kühe, sieben Hunde, neun Katzen, ein Schaf, fünf Schweine und ein paar Gänse. Sind Sie an einem Hund interessiert?“

„Da hätte Linus bestimmt was dagegen.“

„Ist das Ihr Mann?“

„Nein, mein Hund.“

Mit Karacho fährt ein Wagen in den Hof. Der belgische Jeep hält mit quietschenden Bremsen. Erschrocken starrt Pia auf die Aufschrift Polizei und greift nach dem Eiertablett.

„Es ist nicht verboten, Hühner zur Adoption freizugeben“, beruhige ich sie und treffe rasch eine Entscheidung.

„Gib mir die Eier“, sage ich und nehme dem Mädchen die Nachkommenschaft meiner künftigen Adoptivschar ab. Die Menschen auf der Kehr sollten einander beistehen. Und natürlich auch Geld in meinem Restaurant lassen. Ich verbuche die Sache unter Nachbarschaftshilfe mit Eigenwerbung. Zudem ist es praktischer, Eier ins Haus geliefert zu bekommen, als sie im Auto selbst zu transportieren. 

„Ich bring euch das Geld morgen vorbei und schau mir meine Hühner an“, sage ich. „Außerdem lade ich die gesamte Familie“ – beinahe hätte ich gesagt alle Pees – „zur Eröffnung ein, sag das bitte deinen Eltern.“

Pia nickt und huscht davon, bevor Marcel seinem Auto entstiegen ist. Der Polizeiinspektor aus der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, kurz DG genannt, ist zwar mein Freund, aber als meinen Lebensgefährten betrachte ich ihn nicht. Mit Gewichtigkeit kenne ich mich aus, und eine solche Bezeichnung würde zu schwer auf unserer fragilen emotionalen Beziehung lasten.

„Tach, wer war die denn?“, fragt er und schaut dem rennenden Mädchen hinterher.

„Eine spät pubertierende Eifelerin, die an meine Mutterinstinkte appelliert hat“, sage ich, „erkläre ich dir nachher.“

Andere Paare fallen sich bei der Begrüßung um den Hals. Uns überkommt das nur, wenn einer von uns beiden gerade knapp dem Tod entronnen ist, also eher selten. Ein Wiedersehens-Ritual der Zärtlichkeit haben wir nicht entwickeln können. Das mag unserem Alter geschuldet sein – Marcel wird die Fünfzig auch demnächst überschreiten -, aber vermutlich hat das eher mit jenem Selbstschutz zu tun, den wir uns beruflich und privat angeeignet haben. Wenn man so unterschiedliche Leben führt wie wir, weiß man nie, in welcher Verfassung man den anderen bei der nächsten Begegnung antrifft. Vor allem, da wir einander drei Tage weder gesehen noch gesprochen haben. Ein sehr verzwickter Fall erfordere seine ganze Aufmerksamkeit, hatte Marcel gesagt, und ich weiß, wie übel gelaunt ihn schlecht laufende Ermittlungen machen können. Er wiederum weiß, welchem Stress ich vor der Restaurant-Eröffnung ausgesetzt bin und wie unleidlich ich werden kann, wenn etwas nicht nach meinen Vorstellungen läuft. Solche Bedenken stehen einer spontanen Umarmung im Wege. Stattdessen sondiert man die atmosphärische Lage und äußert vorsichtshalber erst mal konstruktive Kritik. 

„Das Schild hängt schief“, bemerkt Marcel und weist nach oben.

„Sage ich ja“, stimme ich ihm zu. „Alles muss man hier selbst machen.“

Ihn anziehen auch, denke ich, trete näher an ihn heran und berühre entgeistert einen bunten Hemdknopf. 

„Habe ich selber angenäht“, bemerkt er stolz. „Sie gleichen der Hemdfarbe am ehesten.“

„Sie sind orange.“

„Die Verkäuferin hat gesagt, sie könnten als aubergine durchgehen.“

„Immer wieder erstaunlich, was bei euch in Belgien so alles durchgehen kann“, murmele ich.

Die schrecklichen Knöpfe sehe ich gar nicht mehr, als wir mit Gudrun und David bei Hein und Jupp am üppig gedeckten Tisch sitzen und über mein Restaurant, über Hühneradoptionen und die Familie Pee reden. Ich sehe etwas anderes. Verstohlene Blicke, die Marcel auf den Wandkalender dieses Schwulenhaushalts wirft. Er nimmt an unserem Gespräch überhaupt nicht teil, sondern starrt immer wieder auf das Foto eines nur mit einem Lendenschurz ziemlich unzureichend bekleideten braun gebrannten jungen Muskelpakets mit Kussmund und keck aufgesetztem Bauarbeiterhelm, unter dem ein paar blonde Haarsträhnen dekorativ hervorlugen. Zugegeben, ein knackiger Knabe, aber was fasziniert meinen Freund an ihm? 

„Amalie“, sagt Hein. „Das ist doch ein schöner Hühnername. Oder Feodora, Luzinda, Kiki und Mimi. Du musst deinen Pflegehennen unbedingt Namen geben, Katja, das ist persönlicher.“

„Ich pflege sie nicht, sondern koche ihre Kinder“, gebe ich zu bedenken. „Was meinst du, Marcel, ist es da ethisch vertretbar, die Mütter zu taufen? Marcel?“
„Häh?“

Erst bei der zweiten Nennung seines Namens scheint Marcel aus der Trance zu erwachen, in die ihn offensichtlich dieses Mannsbild an der Wand versetzt hat.

„Schlag du doch mal einen passenden Namen vor“, versetzt Jupp sanft, meinen Blick meidend.

„Fred“, eilt sich Marcel dem Vorschlag nachzukommen.
Peinliches Schweigen. 

„Ist Fred ein Frauenname in Deutschland?“, fragt David schließlich.

„Kurzform für Frederike“, presse ich hervor. Ich kann einfach nicht glauben, dass ich mich in Marcel so geirrt haben soll. Nicht nur mir wird die Sache langsam unheimlich.

„Hast du ein neues Hobby, Marcel?“, erkundigt sich Hein.

Ein neues Hobby? Seit wann ist das eine Umschreibung für sexuelle Neuorientierung?

„Was für ein Hobby?“, fragt Marcel irritiert.

„Na, fotografieren!“, ruft Hein. „Ich kann ja verstehen, dass du das Foto auch toll findest. Der Mai ist rein künstlerisch gesehen das weitaus beste Bild in diesem Kalender.“

Marcel schüttelt den Kopf und starrt weiter auf das Bild.
Hein schlägt auf den Tisch, dass die Tassen klirren. „Das ist ja nicht mehr zum Aushalten! Nun steh schon auf und schau es dir genauer an!“

Ich kann es nicht fassen: Marcel steht tatsächlich auf und schreitet zur Wand. Wir sind alle sehr still, als er das Foto intensiv mustert.

„Hackerstivvell!“, schreckt er uns plötzlich auf. „Das ist er!“

„Wer denn?“, flüstert Gudrun.

„Mein Opfer!“

„Dein was?“, frage ich fassungslos. 

„Meine Leiche“, setzt Marcel hinzu. „Kann ich das Bild haben?“

„Hol es dir, hol es nur“, sagt Hein, obwohl der Mai noch gar nicht begonnen hat, aber einem derart verstörten Mann darf man nichts abschlagen. „Du kannst den ganzen Kalender mitholen, wenn du willst“, setzt er eilig hinzu. 
„Danke, den werde ich auch brauchen.“

Marcel atmet tief aus, als er den Wandkalender herunternimmt.
David ist als Einzigem die Farbe nicht aus dem Gesicht gewichen. Er sieht völlig entspannt aus, betrachtet nur uns etwas ratlos. Aber er lebt erst seit Kurzem auf der Kehr, und hat vermutlich noch nie so tief in die Abgründe von vermeintlich wohlvertrauten Menschen blicken müssen wie wir anderen. Wenn ich eins aus den vergangenen beiden Jahren in der Eifel gelernt habe, dann ist es, niemandem mehr rückhaltlos zu vertrauen. 

„Ist das dein John Doe?“, fragt David sachlich.

Marcel nickt.

Ich schlage mir an die Stirn. Natürlich! Wie konnte ich nur so blöd sein?

„Du kennst seinen Namen?“, ruft Gudrun entsetzt. Ich ahne, was in ihr vorgeht und eile mich, sie zu beruhigen.

„John Doe nennt die Polizei in Amerika unidentifizierte Leichen“, erläutere ich, blicke Marcel nach Zustimmung heischend an und erschauere nun doch wieder angesichts der orangen Knöpfe auf dem auberginefarbenen Stoff. „Das ist ein Aushilfsname so ähnlich wie Max Mustermann bei uns. Oder Fred bei Marcel.“

„Ach so“, sagt Gudrun misstrauisch.

Marcel steht immer noch.

„Endlich haben wir eine Spur“, sagt er. „Seit drei Tagen versuchen wir herauszufinden, wer der Mann ist.“

„Wie, wo und wann habt ihr ihn gefunden?“, frage ich.

„Vor drei Tagen. Erstochen. Mit dem Kopf im Eiterbach, nahe der N626.“

Er seufzt, klemmt sich den Kalender unter den Arm und leert im Stehen seine Tasse Kaffee.

„Entschuldigt, aber ich fahre gleich ins Büro und gehe der Sache nach. Tut mir leid.“

Mir nicht. Ich bin erleichtert. Darüber, dass diesmal eine Leiche ein Stück weit weg von der Kehr in Belgien aufgefunden wurde. Und darüber, dass Marcel nur seinen Job tut. Herausfinden muss, wer der arme junge Bauarbeiter war, und wer dafür gesorgt hat, dass er nie wieder ein Kalenderblatt schmücken wird.

„Scheußliche Geschichte“, seufzt Hein, als die Haustür hinter Marcel ins Schloss fällt. „Vielleicht hat der Mann einen Freund, der noch gar nichts weiß. Und sich später Vorwürfe machen wird, weil er geglaubt hat, der Junge geht fremd. Weil der sich nicht gemeldet hat. Furchtbar.“

„Die armen Eltern“, sagt Jupp.

„Aber mit uns hat das alles nichts zu tun“, bemerkt Gudrun und strahlt David an: „Wie klug, dass du das gleich verstanden hast!“

„Was hast du gedacht?“, fragt David grinsend zurück. „Dass Marcel ein Date mit dem Bild will?“

Unsere Runde bricht in erlösendes Gelächter aus. Welch ein absurder Gedanke!

Die Kathedrale der Ketzerin – Leseprobe

Prolog

Barone und Damen und kleine Kinder,
Männer und Frauen, alle nackt und tot,
In Stücke zerhauen mit blutigen Schwertern.
Herausgerissne Lebern und Herzen,
liegen umher, wie zum Vergnügen verteilt. 
Rot glänzt der Boden, als sei blutiger Regen gefallen
Die Stadt versinkt in Feuer und Asche.

Anonymer zeitgenössischer Troubadour über das Massaker von Marmande

Ende Mai 1219

„Bist du von allen guten Geistern verlassen?“

Raimund von Toulouse packte die Tochter, die ihm siebzehn Jahre zuvor eine seiner Gespielinnen mit den Worten: „Nimm den Balg oder ich ertränke ihn“, in den Arm gedrückt hatte, und schüttelte sie.

„Hier herrscht Krieg, Clara!“, brüllte der Graf. „Was fällt dir ein, den sicheren französischen Hof zu verlassen und zu uns in den gefährlichen Süden zu kommen?“

„Simon von Montfort ist doch tot“, wisperte Clara. „Ich dachte, damit ist alles vorbei.“

„Nichts ist vorbei!“, donnerte Graf Raimund. Er zog seine gewaltigen Pranken zurück, die sich in Claras Schultern gegraben hatten. „Du musst augenblicklich nach Paris zurück!“

Clara warf einen flehenden Blick auf ihren Halbbruder, der in einem ordentlichen Ehebett gezeugt und nach dem Vater benannt worden war. Bei ihrer Ankunft hatte er ihr zugeflüstert, wie wunderschön sie doch erblüht sei. Das großartige Gefühl, am Grafenhof von Toulouse willkommen zu sein, hätte Clara gern weiter ausgekostet. Die Heftigkeit des Vaters erschreckte sie. Er hätte die so lange abwesende Tochter nicht schütteln, sondern in die Arme schließen sollen! 

„Darf ich nicht zu Hause bleiben?“

Sie biss sich auf die Lippen. Die Frage klang eine Spur zu weinerlich. Wahrscheinlich, weil sie nicht ganz von Herzen kam. Claras Zuhause war schließlich der französische Königshof in Paris, an dem sie seit zehn Jahren in der Obhut der Kronprinzessin Blanka von Kastilien lebte. Die vierzehn Jahre Ältere ersetzte Clara gewissermaßen die so früh aus ihrem Leben entschwundene Mutter.

Aber Blanka war auch Mutter vieler eigener Kinder, von denen andauernd eines starb. Woran sie sich offenbar nicht gewöhnen konnte. Als kürzlich ihr neunjähriger Liebling Philipp das Zeitliche gesegnet hatte, ihre größte Hoffnung für Englands und Frankreichs Throne, war sie für acht Wochen in ihren Gemächern verschwunden, hatte Claras Gesellschaft abgelehnt und sich nur von ihrem geliebten Gemahl Kronprinz Ludwig trösten lassen. So gründlich, dass sie danach wieder guter Hoffnung und somit in einer Sphäre war, in die Clara ihr nicht folgen konnte.

Am Königshof war es überhaupt traurig und langweilig geworden. Viele Gefährtinnen hatten geheiratet, und die meisten der früher so fröhlichen jungen Männer das Kreuz geschultert, um irgendwelche Häretiker im benachbarten Okzitanien auszurotten, in Graf Raimunds und somit auch Claras Heimatland. Das Unbehagen, auch kirchentreue Christen ins Jenseits zu schicken, war der frohen Aussicht gewichen, Ablass für Sünden zu erhalten, ohne sich auf eine gefahrvolle Reise ins Heilige Land begeben zu müssen. 

„Wir sind mittendrin, Clara, und es wird immer schlimmer“, meldete sich jetzt ihr Halbbruder Raimund zu Wort. „Simons Sohn Amaury wütet wie sein Vater und wird nicht ruhen, bis wir allesamt vernichtet sind. Wir können froh sein, Toulouse zurückerobert zu haben.“

„Wie unverantwortlich von meiner Nichte Blanka, dich ziehen zu lassen!“, schimpfte der alte Graf. Er fuhr sich durch den kurzen eisengrauen Schopf, bis dieser wie ein Stachelkranz sein Haupt krönte. Am liebsten hätte er sich jedes Haar einzeln ausgerissen. Das würde aber auch nichts an dem traurigen Gedanken ändern, seine Tochter nur bei jenen in Sicherheit zu wissen, die sein Land und ihn zerstören wollten.

Clara senkte die Lider.

„Blanka weiß nicht, dass ich hier bin“, flüsterte sie fast unhörbar.

„Du hast dich ohne Erlaubnis vom Hof entfernt?“

Clara hob trotzig das Kinn.

„Und du beschützt ohne Erlaubnis Häretiker?“, fragte sie herausfordernd zurück.

Ihr Vater holte mit der rechten Hand aus. Clara zuckte zusammen. Sie rechnete mit einem Schlag, der sie in die hinterste Ecke des Saals befördern würde, doch der Graf stapfte mit zitternder hocherhobener Hand an ihr vorbei und riss die Tür auf.

„Schick sie augenblicklich zu den Franzosen zurück!“, brüllte er seinen Sohn an und knallte die Tür hinter sich ins Schloss.

Eine Stunde später saß Clara bereits wieder auf der schwarzen Stute, mit der sie am frühen Morgen in Toulouse eingetroffen war. 

„Wo sind die Männer, die dich hergebracht haben?“, fragte Raimund, der ihr Pferd vor der Burg am Zügel hielt.

Clara atmete tief das süße Aroma der weißlichen Blüten des Geißblatts ein, das sich an einer Hecke vor dem Gemäuer der Burg in die Höhe rankte. Zu späterer Stunde wird es noch betörender duften, kamen mit einem Mal Erinnerungen an laue Frühlingstage ihrer Kindheit auf. Das Geißblatt im Mai roch noch stärker als der Lavendel im Juli.

„Nun, wo sind sie, deine Ritter?“, hakte Raimund ungeduldig nach.

Sie würde der Frage nicht entkommen können. Beziehungsreich sah sie vom Pferd auf ihren Bruder hinab und ließ ihr Schweigen für sich sprechen.

Raimunds schönes dunkles Antlitz verdüsterte sich.

„Das darf nicht wahr sein!“, brachte er ungläubig hervor. „Du hast getarnten Kreuzrittern die Möglichkeit geboten, in Toulouse einzureiten?“

Genau das hatte sie getan, und sie begann sich deswegen schuldig zu fühlen. Aber über Freund und Feind hatte sie sich keine Gedanken gemacht, als sie am Königshof nach männlichem Schutz für ihre Reise Ausschau gehalten hatte. Sie hatte vor allem Blankas Sorge hervorrufen, die Kronprinzessin für die vermeintliche Gleichgültigkeit ihr gegenüber strafen wollen. Zudem hatten die dunklen und kalten Pariser Wintermonate wieder einmal Sehnsucht nach südlicher Wärme und fröhlicher Leichtigkeit in ihr aufkommen lassen. In ihr, die in die leuchtenden Farben des Südens hineingeboren war, hatte das graue Einerlei jenseits des Cité-Palasts Schwermut aufkommen lassen. Das nach Fäulnis riechende Wasser der Seine ekelte sie ebenso an wie der Regen, der den gesamten März über unaufhörlich Kot, tote Ratten und faulenden Unrat durch die Gassen der Stadt geschwemmt hatte. Selbst wenn südlich der Garonne keine liebende Mutter ihrer harrte: Der Familiensitz in Toulouse war ihr als überaus erstrebenswertes Ziel erschienen.

Clara interessierte sich nicht für Politik und verstand nichts davon. Sie wusste nur so viel, dass sich England standfest weigerte, französisch zu werden, und sich irgendwelche Ketzer dem Papst widersetzten und deshalb umgebracht werden sollten. Mit ihrem Leben, ihren Wünschen, ihrer Sehnsucht und ihrer Zukunft hatte dies alles nichts zu tun.

Hatte es aber doch, wie sie zu ihrem Entsetzen nach der Ankunft in Toulouse feststellen musste. Kaum war sie mit ihren fünf Begleitern durch die Tore der Stadt geritten, wendeten diese plötzlich ihre Mäntel und wiesen die mit einem roten Kreuz auf der rechten Schulter bestickten Innenseiten vor. Mit höflichem Hohn dankten sie der Grafentochter für den Schutz, den ihr Name ihnen gewährt hatte, und sprengten in die Stadt davon.

„Du hast unsere Feinde zu uns gebracht?“, hakte Raimund nach. Seine sonst so klangvolle Stimme war schneidend scharf. 

„Wer anders hätte mich denn begleiten sollen?“, gab Clara spitz zurück. „Unser Haus hat offensichtlich keine Freunde mehr im Norden. Auch deshalb wollte ich zu meiner wirklichen Familie zurückkehren. Hätte ich mich etwa ganz allein auf den Weg machen sollen?“

„Du hättest gar nicht erst kommen dürfen.“

„Das werde ich auch nie wieder tun!“, fauchte Clara. „Nie wieder werdet ihr eure Augen auf mich nach dem Vater benannt und richten, auf die Schwester, die Tochter, die wie eine räudige Katze aus dem Haus gejagt wird! Ich wünschte mir nicht einmal, ich wäre tot, denn ihr würdet mein Hinscheiden gewiss nicht beklagen, sondern feiern!“

Sie brach in Tränen aus.

„Steig ab, Clara“, sagte Raimund leise. Sie schüttelte den Kopf und schluchzte weiter: „Wo ich nicht gewünscht werde, mag ich nicht verbleiben.“ 

Raimund sog die Luft tief ein, ohne der duftenden Lieblichkeit des Geißblatts gewahr zu werden.

„Das sollst du auch nicht. Ich will nur von Angesicht zu Angesicht mit dir reden, Clara“, gab er tonlos zurück. „Du hast offenbar weder die geringste Ahnung von diesem Krieg, noch von den Gefahren, in die du andere gebracht und dich selbst begeben hast. Wahrscheinlich weißt du nicht einmal, dass ich letztes Jahr diese Stadt gemeinsam mit allen Bewohnern sechs Wochen lang erbittert gegen die Kreuzfahrer verteidigt habe.“ Seine Stimme wurde lauter: „Kreuzfahrer! Hah! Sag mir doch: Wie christlich sind denn Ritter, die Christenmenschen abschlachten?“

Clara schüttelte abermals den Kopf. Mit dieser Frage konnte sie überhaupt nichts anfangen.

„Ketzer“, murmelte sie unsicher, an grauenerregende finstere Gestalten denkend, die in Mondnächten dem Teufel huldigten und ihm jene kleinen Kinder zum Opfer darbrachten, deren Blut sie zuvor getrunken hatten. Böse Menschen, die mit der Macht des Kreuzes bekämpft werden mussten. 

„Wir sind keine Ketzer, Clara, wir lassen nur jeden, der hier ehrlich leben und arbeiten will und keinen anderen stört, in Ruhe. Das nimmt uns die Kirche übel. Sie fürchtet um ihre Macht und ihren Zehnten und hat unserem ganzen Landstrich den Krieg erklärt.“

Seine Worte verwirrten Clara nur noch mehr. Sie schwieg. Raimund hob sie aus dem Sattel, küsste sie sanft auf den Scheitel und fuhr fort: „Dir ist ganz offensichtlich unbekannt, was tatsächlich auf dem Spiel steht und was den Papst bewogen hat, zu diesem …“, er machte eine kleine Pause und brachte dann zwischen zusammengebissenen Zähnen erbittert hervor: „… Kreuzzug … aufzurufen.“

Mit beiden Beinen wieder auf festem Grund stehend, meldete sich in Clara abermals die Widerspenstigkeit, welcher Blanka sie so oft geziehen hatte.

„Der heilige Vater wird seinen Grund dafür gehabt haben, unseren Vater zweimal zu exkommunizieren!“, gab sie bockig zurück. Trotz – oder vielleicht wegen – seiner harten Worte bewunderte sie diesen Bruder, der von eindrucksvollerer Gestalt und feinerem Wesen war als jeder Ritter, den sie kannte. Er durfte sie nicht für dumm halten, und so setzte sie hinzu: „Der Heilige Vater ist Gottes Stellvertreter auf Erden und macht keine Fehler, oder zweifelst du das etwa an?“

„Wenn dem so wäre, würde ich es ganz bestimmt nicht dir verkünden“, erwiderte Raimund, rief einen Ritter herbei und flüsterte ihm etwas zu. Dann nahm er seine Schwester an die Hand.

„Das Leben ist weder einfach noch gerecht, Clara“, sagte er, als er sie zu einer steinernen Bank an der Burgmauer geleitete und sich neben ihr darauf niederließ. Er blickte über das erblühte Land, über die ausgedehnten Weinberge, auf denen unzählige ameisengroße Menschen an den Reben arbeiteten, über das Tal, in dem die Pastel-Pflanze Färberwaid blühte, aus deren Blättern sich Indigo gewinnen ließ, jenes blaue Gold, das in die ganze Welt gesandt wurde und Toulouse zu großem Reichtum verholfen hatte. Reichtum, an dem der Mann in Rom ebenfalls teilhaben wollte.

„Auch du bist ganz sicherlich schon mal von einem Menschen enttäuscht worden“, sagte Raimund. Clara dachte an Blankas Zurückweisung und nickte heftig.

„Siehst du. Der heilige Vater ist auch nur ein Mensch. Er kann weder in die Zukunft sehen, noch abschätzen, wie sich die Welt entwickeln wird. Als er vor zehn Jahren zum Kreuzzug gegen die Albigenser aufrief, hat er bestimmt nicht damit gerechnet, dass sämtliche Bewohner von Béziers abgeschlachtet werden würden, sogar jene, die in Gottes Kirche Asyl gesucht hatten.“

Clara blickte entsetzt auf. „Waren das alles Ketzer?“

Raimund lachte bitter. „Alle siebentausend Bewohner der Stadt und die Landbewohner, die in ihr Schutz gesucht hatten? Natürlich nicht. Es waren Christen wie du und ich. Die Barone aus Frankreich hatten zunächst auch noch Skrupel. Sie fragten bei der römischen Kirche an, wie sie denn die Ketzer von den Christen und Juden unterscheiden könnten, da in der Stadt doch alle friedlich miteinander lebten und arbeiteten. Da forderte ein Stellvertreter von Gottes Stellvertreter deine so genannten Kreuzritter auf, solch kleinliche Bedenken abzulegen und die gesamte Bevölkerung abzuschlachten, Männer, Frauen, Kinder. Gott werde die Seinen schon erkennen und für sie sorgen, hat er gesagt. Und dann gab es kein Halten. Alle wurden ermordet. Béziers besteht nicht mehr. Und Toulouse droht das gleiche Schicksal, wenn wir den Kreuzfahrern das Tor öffnen, so wie du es getan hast.“

Clara schüttelte sich. Wo war sie nur hineingeraten! Sie sprang auf. 

„Ich will hier weg!“, stieß sie hervor.

„Dafür sorge ich gerade.“

Raimund stand auf und winkte den Ritter herbei, der, von drei Männern flankiert, näher trat.

„Es tut mir leid, Clara, ich kann dir kein größeres Gefolge mitgeben. Aber du begreifst sicherlich, dass hier jeder wehrbare Mann gebraucht wird. Gute Reise, meine Schwester, Gott segne dich und schütze dich vor Schaden und deiner Unwissenheit!“

In Gedanken versunken, achtete Clara weder auf die Landschaft um sich herum noch auf den Sonnenstand. Daher entging ihr, dass die Männer statt der streng nördlichen Richtung eine nordwestliche einnahmen. Die Getreuen des jungen Raimund nutzten ihren Auftrag, um eine vordringlichere Aufgabe zu erledigen: nämlich drei der fünf Kreuzritter einzufangen, die am Mittag zwei Häuser in Toulouse niedergebrannt und ein Dutzend Frauen und Kinder ermordet hatten. Einer der Kreuzträger hatte sein Ende unter einem brennenden Balken gefunden; ein anderer war bei der Flucht aus der Stadt von einem uralten Mann aufgehalten worden, der sich seinem Pferd einfach in den Weg geworfen hatte. Während der Greis von Pferdehufen zertrampelt wurde, stürzte sich eine wütende Menge auf den einstmals so fröhlichen Pariser Höfling, von dem wenige Minuten später nur noch ein blutender Rumpf übrig blieb. Die anderen drei Kreuzritter hatten entkommen können, und auf sie war ein stattliches Kopfgeld ausgesetzt.

Claras Begleiter waren überzeugt, die Franzosen würden sich zum königlichen Heer absetzen und gaben ihren Pferden die Sporen. Sie wussten, dass sich Kronprinz Ludwig von Paris aus in südwestliche Richtung in Marsch gesetzt hatte, um selbst endlich auch dem päpstlichen Gebot zum Kreuzzug gegen die Häretiker nachzukommen.

Ludwigs Vater, der französische König Philipp II. August, hatte sich bislang noch weitgehend aus dem zehnjährigen Streit zwischen Papst und Häretikern herausgehalten und trotz Drängen des Papstes abgelehnt, am ersten Kreuzzug gegen die Ketzer teilzunehmen. Schließlich hatten ihm seine Feldzüge gegen den englischen Johann ohne Land mehr Kopfschmerzen bereitet als die Albigenser, in seinen Augen ungefährliche schwärmerische Trottel und die ganze Aufregung nicht wert, die um sie gemacht wurde. Allerdings hatte er gleich den Häretikern – wenn auch aus anderen Gründen – ebenfalls einiges am Verhalten des Papstes auszusetzen, der ihn selbst ja schon einmal exkommuniziert und damit sein Land an den Rand eines Abgrundes getrieben hatte. 

Mit einzelnen Päpsten hatte er gewisse Probleme, doch die Autorität des heiligen Stuhls stellte er nicht grundsätzlich infrage. Als Johann ohne Land vor seinem Tod die Verfrorenheit besaß, dem Papst England zu übereignen, starb zwar König Philipps Traum von einem französisch regierten Albion, nicht aber der von einer gehörigen Ausweitung seines Reichsgebietes. Und so reizte ihn jetzt die Aussicht, mit heiligem Segen das einstige Septimanien, um das schon Karl der Große und dessen Erben erbittert gekämpft hatten, der französischen Krone einzuverleiben. Zudem klang Krieg gegen die Ketzer erhebender als Eroberungsfeldzug und würde sich den raffgierigen französischen Baronen, deren Unterstützung er brauchte, wesentlich besser verkaufen lassen, da reiche Beute mit und in den Burgen der ketzerfreundlichen Okzitanier zu erwarten war. 

„Die Grafen von Toulouse sind seit jeher gefährlich. Einer hat einst gar das gesamte Karolingerreich zusammenbrechen lassen“, verkündete König Philipp in Gegenwart seines Sohnes Ludwig. Dieser erklärte sich sofort bereit, dem derzeitigen Grafen von Toulouse, einem Oheim seiner Gemahlin Blanka, die Stirn zu bieten. Der böse alte Raimund sollte dafür büßen, Ketzern, die das römische Christentum bedrohten, Zuflucht zu gewähren. Er sollte seine Länder verlieren, somit auch den Gewinn aus allen reichen Gaben der südlichen Erde, und sämtlicher Ämter enthoben werden. Mit dem Segen des Papstes, zehntausend Bogenschützen und sechshundert Rittern brach Ludwig frohgemut gen Süden auf.

Clara begann unruhig zu werden, als ihre Begleiter nach Einbruch der Dämmerung keine Anstalten machten, eine passende Unterkunft für die Nacht zu finden. Auf der Hinreise hatte sie in Klöstern, Herbergen, Bauernhöfen und einmal in einer Scheune geschlafen, aber immer ein Dach über dem Kopf gehabt. Doch ihr Drängen stieß bei den Männern auf taube Ohren und ihre Hinweise auf passende Gebäude wurden ignoriert. So musste sie sich mit einem Nachtlager am Fuße eines Machandelbaums unter freiem Himmel neben einem Fluss begnügen, den sie auf der Hinreise nicht wahrgenommen hatte. Während sie sich in ihren Reisemantel einwickelte, schwor sie sich, eine solche Behandlung in der nächsten Nacht keinesfalls zu dulden. Lange noch starrte sie in den sternenreichen Himmel, den sie im verräucherten Paris nie so klar gesehen hatte, und grübelte darüber nach, wie sie ihre Begleiter in der nächsten Nacht dazu bringen könnte, eine Herberge aufzusuchen.

Doch an die nächste Nacht würde sich Clara später ebenso wenig erinnern können wie an die Angreifer, die am Tag darauf in der Hitze des Mittags am Rande eines in früher Blüte befindlichen Lavendelfeldes mit erhobenen Lanzen und blanken Schwertern plötzlich das kleine Grüppchen umzingelten. Der Angriff erfolgte rasendschnell. Als Clara vom Pferd stürzte, spürte sie einen brennenden Schmerz in der Brust, und dann wurde es am helllichten Tag stockfinstere Nacht um sie.

Eine Fliege brummte um ihren Kopf. Clara öffnete verwirrt die Augen. Sie lag auf einem weichen Bett in einer winzigen Kammer. Durch die Fensterluke stahl sich ein schmaler Sonnenstrahl und tauchte eine schwarz gekleidete alte Frau in staubiges Licht.

„Sei nicht traurig, Gott der Herr ist mit dir, mein Kind“, sagte sie, strich Clara wie segnend über die Stirn und hob vorsichtig ihren Kopf an.

„Du musst jetzt etwas trinken, warte, ich helfe dir beim Aufsitzen. Langsam, langsam, du bist immer noch sehr geschwächt.“

„Wo bin ich? Was ist geschehen?“, krächzte Clara kaum verständlich, nachdem sie den an ihre Lippen gereichten Becher geleert hatte. Sie blickte an sich hinab. Noch nie hatte sie im Bett Kleidung getragen, schon gar kein dunkles Linnen. Warum sollte sie denn trauern? Sie schlug nach der dicken schwarzen Schmeißfliege auf ihrer Brust. Laut summmend entfleuchte das Insekt.

„Du bist in Sicherheit. In Marmande bei guten Menschen“, erwiderte die Frau freundlich lächelnd. Behutsam half sie Clara in das Kissen zurück und strich die Bettdecke glatt. Mit ihren gichtigen Fingern stülpte sie dann den leeren Becher blitzschnell über die Fliege, die sich auf dem kleinen Tisch aus dunklem grob gezimmertem Holz neben dem Bett niedergelassen hatte. Verwundert beobachtete Clara, wie vorsichtig die alte Frau den Becher über den Rand des Tischleins schob, auf ihre Handfläche setzte und dann zur schmalen Fensterluke schritt, wo sie das eklige kleine Tier davonfliegen ließ.

„Jetzt ist das Tierchen hoffentlich in Sicherheit“, sagte die Frau. „Wie du. Die Männer des Königs glaubten dich tot und haben dich in die Garonne geworfen. Ganz in der Nähe fischten zwei unserer Credentes. Die haben dich aus dem Wasser herausgezogen. Es ist ihnen gelungen, dich an der Belagerung vorbei hierherzubringen. Eine gute Frau hat dich gepflegt. Und mich herbeigerufen, um dir das Consolamentum zu spenden, wenn du es denn wünschst. Ich bin eine Perfecta. Du siehst, ich trage das Johannes-Evangelium bei mir.“

Sie deutete auf die schmale Schriftrolle, die an ihrem Gürtel baumelte.

Männer des Königs? Clara mühte sich, den Worten der Alten Sinn zu entnehmen. Marmande, Credentes, Perfecta, Belagerung, Consolamentum – wie die unschlagbare Fliege in der Kammer schwirrten ihr diese unbekannten Begriffe im Kopf umher. Was war mit der Welt geschehen, die sie bislang gekannt hatte?

„Wo sind meine Männer?“, fragte sie und setzte unsicher hinzu: „Die des Grafen von Toulouse?“

In den von vielen Fältchen umrahmten blassblauen Augen der Alten erschien ein Leuchten.

„Gott schütze unseren Retter, den edlen Grafen von Toulouse“, sagte sie, ohne auf Claras Frage einzugehen. „Ohne ihn könnten wir die Lehre der liebenden Gottheit nicht verbreiten und keine Seelen mehr für den Eintritt in das Licht der himmlischen Sphäre vorbereiten.“

„Mein Vater“, murmelte Clara, richtete sich mühsam wieder auf und hob die Rechte, um sich zu bekreuzigen. Rasch griff die Alte nach ihrer Hand.

„Lass ab vom Zeichen des Satans“, riet sie freundlich. Clara sah sie verständnislos an, sank wieder in das Kissen zurück und schloss die Augen.

Sie wusste immer noch nicht, was geschehen war, wer sie angegriffen hatte, wie viel Zeit vergangen war, wo sie sich befand, was mit ihrem Gefolge geschehen war und warum sie sich nicht bekreuzigen sollte. Und warum die alte Frau das Leben einer Fliege gerettet hatte, eines Insekts, das vermutlich nur dazu erschaffen worden war, um Menschen zu quälen. Doch jetzt umgaben sie Ruhe und Frieden. Sobald sie zu Kräften gelangt war, würde sich schon alles aufklären. Sie würde die vertraute Welt wiederfinden und sich dem nächsten Zug anschließen, der nach Paris reiste.

Schon am nächsten Tag erfuhr sie, dass an eine Reise nicht zu denken war. Das Heer des Königs hatte Marmande umzingelt, und es war nur eine Frage der Zeit, wann auch diese Stadt fiel. Dies also war der Krieg, von dem sie nichts verstand, von dem Raimund gesprochen hatte und der irgendwie mit dem Kreuzzug gegen die Häretiker zusammenhing, zu dem der Papst aufgerufen hatte. Ein Krieg, der sie nie interessiert hatte und der ganz plötzlich sehr viel mit ihr zu tun hatte. Wie nur war sie da hineingeraten?

„Sie werden uns alle töten – wie damals in Béziers“, bemerkte die junge Frau, die Clara versorgte, mit einer Gleichmut, als spräche sie über das Wetter. Sie hob ein Kleinkind auf, das in die Kammer gekrabbelt war, und legte es sich an die Brust. 

„Béziers!“ Wo siebentausend Menschen ohne Rücksicht auf ihren Glauben abgeschlachtet worden waren, erinnerte sich Clara an Raimunds Worte. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie versuchte aufzustehen. Ihre Stimme überschlug sich: „Das ist doch die Hölle! Das dürfen wir nicht geschehen lassen! Wir müssen hier sofort weg!“

„Ja, meine Freundin, bald werden wir wieder daheim sein, im Himmelreich. Aber leg dich doch hin, du bist noch zu schwach.“

„Ich will nicht sterben!“

„Bete und finde Ruhe! Nur durch den Tod kannst du die Macht des Satans brechen, der dich im Fleisch gefangen hält. Diese unzulängliche böse Welt gehört ihm, nicht Gott dem Herrn, dem am Wohl aller Seelen gelegen ist, der Mitgefühl, wahre Hingabe und Verwandlung unseres Wesens fördert. Fürchte den Tod nicht, meine Freundin. Er wird dir die Erlösung bringen, das wahrhaftige Leben im Reiche des Herrn. Lass dir von der alten Martha das Consolamentum erteilen, auf dass auch du nicht wieder auf diese Welt des Leidens und Elends zurückkehren musst.“

Clara schwieg. Die junge Frau sprach wirres Zeug. Doch auch die Alte hatte seltsam geredet. Die Menschen, die ihr das Leben gerettet hatten, schienen sich in einer anderen Welt zu befinden, ein sehr befremdliches Bild von Gott zu haben und den eigenen Tod zu begrüßen. Wahrscheinlich hatten diese bösen Ketzer sie verblendet. 

„Warum nur liefert ihr die Häretiker den Männern des Königs nicht einfach aus?“, schlug sie flüsternd vor. „Dann könnt ihr gewiss euer Leben und das der unschuldigen Kinder retten!“

Die junge Frau starrte Clara einen Augenblick lang an, lächelte dann sanft und bemerkte gedehnt: „Ja, das sind wohl Namen, die man uns gibt und die uns nichts bedeuten: Häretiker, Katharer, Albigenser, Ketzer, Bogumilen, Textores, aber wir sind überhaupt nichts Besonderes und verdienen nicht, mit solch vielfältigen Bezeichnungen belegt zu werden. Wir mühen uns schlichtweg darum, gute Menschen zu sein, rechtschaffen zu handeln, den Nächsten zu lieben, andächtig zu beten und fleißig zu arbeiten. Schwer genug in diesen bösen Zeiten.“

Damit entschwand sie leise aus der Kammer und überließ Clara ihrem Entsetzen, in einem Ketzerhaus gelandet zu sein. Ketzerhaus, wiederholte sie den Gedanken; das klang viel schlimmer, als es sich anfühlte. Früher hätte sie sich darunter eine dunkle Höhle mit bedrohlichen Gestalten, krächzenden Raben, umherhuschenden schwarzen Katzen und Abbildern des Satans vorgestellt. Sie sah sich in der ungeschmückten Kammer mit den weiß gekalkten Wänden und dem bunten Teppich auf dem Boden um und schüttelte den Kopf. Diese barmherzigen Menschen, die sich zwar nicht bekreuzigten, aber sie, eine völlig Fremde, liebevoll pflegten und sich Umstände damit machten, einer Fliege das Leben zu retten, sollten eine vergleichbare Bedrohung für die Christenheit darstellen wie die grausamen Muselmanen? 

Und doch muss ich hier weg, dachte Clara, fort aus dem Ketzerhaus und aus diesem Marmande. Ich gehöre doch zum Hof des Königs! Seine Ritter sollen mich nicht töten, sondern beschützen! Aber Männer des Königs haben mich in die Garonne geworfen. Sie wussten eben nicht, wer ich bin, hielten mich für eine Ketzerin. Aber wer bin ich wirklich? Weiß ich es denn selbst? Ich bin die Tochter des Grafen von Toulouse. Und Königin Blankas Hofdame, ihr Schützling. Das geht offenbar nicht zusammen. Ich muss fort von hier – zu Ludwigs Männern. Der Kronprinz, den man den Löwen nennt, ist Blankas Gemahl; er wird mich schon hier herausholen und in Sicherheit bringen.

Sie sprang aus dem Bett, doch die Beine versagten ihr den Dienst. Nach zwei Schritten vom Bett zur Tür stolperte sie über ihre eigenen Füße, brach zusammen und riss im Fallen einen schweren Wasserkrug vom Sims.

Die junge Frau stürzte herbei.

„Du musst dich schonen“, sagte sie und schob mit dem Fuß die Scherben beiseite.

„Nein!“, schrie Clara. „Ich gehöre nicht hierher! Ich muss gehen, und ich werde gehen! Sofort!“

Ihre Augen flackerten, wie von wildem Feuer gespeist. Schwer auf die Schulter der viel kleineren jungen Frau gestützt, tat sie einen weiteren Schritt zur Tür. Dann lagen beide Frauen auf dem Boden.
„Sofort“, sagte die junge Frau leicht keuchend „sollten wir auf später verschieben.“

Sie sprach noch etwas, doch ihre Worte gingen in einem dumpfen Dröhnen unter, das sich mit einem Mal in ein ungeheures Getöse verwandelte. Bersten, Krachen, ohrenbetäubendes Pfeifen. Dazwischen aus unzähligen Kehlen Geheul von Mensch und Tier. Es kam näher, schien in einen einzigen höllischen Schrei zusammenzufließen, der das Mark in den Gliedern erstarren ließ. Als wäre der Himmel auf die Erde gekracht, erbebte der Boden unter den beiden Frauen, die sich angstvoll aneinanderklammerten und entsetzt zu der von einem Feuerschein erhellten Fensterluke blickten, durch die bereits erste Funken stoben.

„Mein Kind!“, schrie die junge Frau. Sie riss sich von Clara los und stürzte, den Rock fast bis zur Mitte gerafft, aus der Kammer.

Wäre Zeit für einen Gedanken gewesen, hätte Clara an ein Wunder geglaubt. Ohne auf die eben noch so nachgiebigen Beine zu achten, sprang sie auf, hetzte in den schmalen dunklen Gang und gelangte, wie getragen von drängenden Körpern, die steilen Stufen hinunter zum Ausgang.

Sie wusste nicht, wohin, ließ sich vom Strom der Flüchtenden mitreißen. Sie wankte, konnte aber nicht fallen und wurde wie ein welkes Blatt von einer zur anderen Seite getrieben. Beißender Rauch fraß sich in ihre Kehle; sie hustete, stolperte wieder und wurde schließlich rücklings in eine kleine Nische gedrängt. Raues Mauerwerk riss ihr die Haut an Armen und Handflächen auf, als sie, dem Chaos ausgeliefert, gegen die Wand gepresst wurde.

Brennende Pfeile flogen über die Köpfe, prallten gegen Mauern und stürzten in die Menge. Bilder wie aus Fieberträumen. Grelles Licht wechselte mit Dunkelheit; Krachen, Prasseln und Zischen betäubte die Ohren, ätzender Gestank und Geruch verbrennenden Fleisches stieg Clara in die Nase.

„Rette mich, Gott! Ich will nicht sterben!“

Sie schloss die Augen, öffnete sie erst wieder, als der Druck der Leiber etwas nachließ. Taumelnd trat sie einen Schritt vor.

Etwas kam auf sie hernieder und prallte vor ihr auf den Stein. Blut spritzte ihr ins Gesicht. Durch einen rötlichen Schleier blickte sie erstarrt auf das winzige auseinandergeborstene Häuflein Mensch, ein Kleinkind, vielleicht das ihrer Pflegerin.

Ihr eigener Schrei hallte Clara noch in den Ohren, als ein Mann mit blankgezogenem erhobenem Schwert auf sie zustürmte. Über seinem Kettenhemd trug er den Waffenrock des Königs. In Erwartung des todbringenden Schlages schloss Clara wieder die Augen. Sie spürte einen Luftzug, hörte das Aufschlagen der Klinge auf Stein – und ihren Namen. Sie hob die Lider.

„Clara!“

Der Topfhelm verfremdete die gedämpfte Stimme, doch die violetten Augen, die sich hinter den Metallschlitzen ungläubig weiteten, würde sie überall wiedererkennen.

„Theo“, keuchte sie und streckte dem Mann die Arme entgegen. „Theo! Rette mich!“

Und dann sank sie zusammen.

Die Welfenkaiserin – Leseprobe

Prolog

Juli 833

Der bewegliche Wall aus Leibern und Pferden versperrte ihr die Sicht auf die Landschaft. Die Männer achteten sorgsam darauf, dass die Gefangene auf dem kleinen Ross nicht aus dem Kreis ausscherte. Sie rissen untereinander derbe Scherze, sprachen aber zu ihr kein Wort. Judith wusste weder, wo sie sich befand noch kannte sie das Ziel der Reise. Der fünfzehnte Tag war angebrochen, und der Stand der Sonne verriet ihr, dass der Weg weiterhin beharrlich nach Süden führte. Jeden Morgen, wenn sie sich auf ihrem Lager die Fesseln abnehmen ließ, die verhindern sollten, dass sie sich nachts davonstahl, wunderte sie sich darüber noch zu leben. Warum war sie nicht gleich getötet worden, nachdem man sie von der Seite des Kaisers und ihres Sohnes gerissen hatte? Was hatte man mit der Frau vor, von der Erzbischof Agobard von Lyon behauptete, sie sei die Wurzel des Übels, das dieses einstmals so blühende Reich befallen hatte? In welches Kloster brachte man sie?

Die Mittagssonne brannte durch das schwere dunkle Tuch alle weiteren Gedanken aus ihrem Kopf heraus. Nur vereinzelte Bilder schwirrten noch darin herum. Die verzweifelte Miene ihres Gemahls Kaiser Ludwig, als er auf dem Lügenfeld von Colmar die Niederlage gegen seine drei ältesten Söhne eingestehen musste; der verständnislose Blick ihres zehnjährigen Sohnes Karl, dem man nicht einmal gestattet hatte, sich von der Mutter zu verabschieden; das triumphierende Grinsen ihres Stiefsohnes Lothar, der endlich am Ziel seiner Wünsche angelangt war und die unverhohlen hämische Freude seiner Gemahlin, ihrer ärgsten Feindin. Und dann war da noch die Verachtung in den eisgrauen Augen jenes abseits stehenden Mannes, den sie einst zu lieben geglaubt und der sie verraten hatte. 

Judith griff sich an die juckende Nase. Angewidert betrachtete sie die hellroten Hautschiefern, die auf ihr braunes Kleid herabregneten.

„Da ist es!“

Einer ihrer Bewacher streckte den Arm aus und wies nach vorn. Judith reckte das Haupt, konnte zunächst aber nur einen dunklen Steinturm ausmachen. Als die Reiterschar anhielt und die Männer abstiegen, sah sie unterhalb des Turms einen niedrigen Bau aus mächtigen ungleichen Gesteinsbrocken, den ein breiter Graben voll schlammigen Wassers umgab. Sie erstarrte. Dies war kein Kloster. In der Ferne, hinter sommerbraun verbrannten Feldern flimmerte die Silhouette einer Ansiedlung.

Zwei Männer traten aus dem Turmportal, ein hochgewachsener Bartträger und ein kleiner runder Glattgesichtiger. Sie überquerten die schmale Holzbrücke und blickten mit unverhohlener Neugier zu der Frau auf, die immer noch nicht abgestiegen war.

„Die abgesetzte Kaiserin?“ fragte der Größere, und als die Männer nickten, riss er Judith mit einem Ruck vom Pferd, stieß sie in den Staub und rümpfte die Nase.

„Sie stinkt erbärmlich!“

„Das ist noch ihr geringster Fehler“, rief der Anführer über seine Schulter. Er war an den Wassergraben getreten und urinierte hinein. Die anderen Wachen folgten ihm.

„Und im Gegensatz zu allen andern lässt sich der beheben. Gönnen wir ihr doch ein Bad in der frisch aufgewärmten Brühe!“

Judith wehrte sich nicht, als grobe Hände nach ihr griffen und sie mit Schwung in den Graben schleuderten. Sie hielt die Luft an, als das Wasser über ihrem Kopf zusammenschlug. Dankbar für die dunkle Kühle, die sie in der Tiefe umgab, wäre sie gern ertrunken. Aber die Männer, die sie viele Tagereisen mit sich geführt hatten, würden nicht zulassen, dass sie am Ziel wie ein Kätzchen ersoff. Sie hatten geschworen, sie heil abzuliefern. Ihren Henkern etwa? Als ihre Füße Halt im schlammigen Untergrund fanden, erhob sie sich widerwillig. Das Wasser reichte ihr bis zum Kinn. Ihr langes Blondhaar hatte sich gelöst und trieb jetzt wie ein seltsames Farngewächs um ihren Kopf herum. Mit seiner Lanze fischte einer der Wachen ihr dunkles Umschlagtuch aus dem Graben. Als er sich bückte und es ihr hinhielt, damit sie sich daran aus dem Wasser ziehen konnte, hätte sie sich beinahe bei ihm bedankt.
Das Kleid klebte ihr am Leib, doch die Gnade, sich in der Sonne trocknen zu dürfen, wurde ihr nicht gewährt. Obwohl sie bereitwillig mitging, zerrten die beiden Torwächter sie an den Armen in das steinerne Gebäude.

„Wo bin ich hier?“ versuchte sie zu fragen, brachte aber nur unverständliche krächzende Laute hervor. Nach mehreren vergeblichen Anläufen in den ersten Tagen des Ritts hatte sie es irgendwann aufgegeben, ihren Wächtern Worte zu entlocken und war schließlich selbst verstummt.

„Man darf mit ihr nicht reden“, wies der hinter ihnen gehende Anführer die beiden Männer an: „Befehl vom Kaiser!“

„Kaiser!“ Voller Verachtung versuchte sie das Wort auszuspeien. Lothar war kein Kaiser, sondern ein abgesetzter Mitkaiser. Der wirkliche Kaiser, ihr Gemahl, war sein Gefangener, dem eigenen Sohn so ausgeliefert wie sie jetzt diesen fremden Männern. 

„Sie kann offenbar gar nicht sprechen“, sagte der größere Torwächter und strich sich über den dunkelblonden Vollbart. Er ließ seinen Blick über den vor Kälte zitternden Frauenleib gleiten, um dessen Konturen sich die nasse Kleidung anschaulich schmiegte.

„Und was darf man sonst nicht?“ fragte er gedehnt.

„Sie freilassen“, erwiderte ihr Wächter lachend. „Im Übrigen könnt ihr mit ihr machen, was ihr wollt. Und sollte sie unter eurer Obhut sterben, dann ist das eben ihr Schicksal. Niemand wird euch im Heimatland des Kaisers deswegen anklagen.“

Lothars Heimatland war Italien. Er hatte sie also in das frühere Langobardengebiet verschleppen lassen, den einzigen ihm vom Vater noch überlassenen Reichsteil. „Und lasst niemanden zu ihr in den Kerker, der sich nicht als Abgesandter des Kaisers ausweisen kann.“

Kerker? Sie traute ihren Ohren kaum. Seit Jahrhunderten wurden vom Thron gestoßene unliebsame Verwandte in recht gemütliche Klöster abgeschoben. Das hatte sie selbst ja auch schon einmal überlebt. Was für einen Sinn hätte es, sie in einen Kerker zu werfen? Sollte sie da wie ein gefangenes Tier verrecken? Sie begann heftiger zu zittern. In einem abgelegenen italischen Verlies würde keiner ihrer Getreuen nach ihr suchen.

Der kleinere Torwächter kniete auf dem Boden und machte sich an einer hölzernen Falltür zu schaffen.
„Schaut her, das Schloss der Kaiserin!“ stieß er meckernd aus und hielt ein angerostetes Fallriegelschloss hoch. Er wuchtete die Bodentür zur Seite und legte ein Kellerloch frei, aus dem modriger Geruch stieg.

Der vollbärtige Torwächter versetzte Judith einen Schlag auf die Schulter. Wie aus Versehen rutschte seine Hand ab und blieb kurz auf ihrer Brust liegen. Mit der anderen Hand deutete er in das Loch. Judith beugte sich vor, da sie aber weder eine Leiter sehen, noch in der Dunkelheit die Tiefe abschätzen konnte, zuckte sie ratlos mit den Schultern.

„Wenn sie selbst springt, bricht sie sich vielleicht nichts“, schlug der Bartträger vor.
Rasch setzte sich Judith auf den Rand des Lochs, schloss die Augen und sprang. Im Fallen dachte sie nur: Wofür?

Die Beutefrau – Leseprobe

Prolog

Im Jahr 785

Es regnete seit Tagen. Kein Licht drang durch die schmalen mit Öltuch und Holz abgedichteten Fenster. Der beißende Qualm der beiden Fackeln vermischte sich mit dem Rauch von der Feuerstelle in der Mitte des einzigen Raums. Wibbo war ungeachtet seines lahmen Beines auf das Holzdach des steinernen Gebäudes geklettert, um das Abzugsloch zu vergrößern. Doch seine Bemühungen hatten nichts gefruchtet.

„Der Regen macht die Luft zu schwer. Der Rauch kann nicht aufsteigen“, sagte er, als er ins Haus zurückkehrte.

„Wir sollten das Feuer löschen.“ 

Ein Schwall frischer kalter Luft drang mit ihm in den Raum.  „Laß die Tür offen“, bat Geva mit heiserer Stimme. Sie biß sich leicht auf die Zunge. Der Speichel, der die Augen der kleinen Kinder vor dem Rauch schützen sollte, wollte nicht mehr so recht fließen. Doch nicht vom Qualm allein war ihre Kehle ausgedorrt.

Geva hatte Angst. Wo blieb Widukind? Er hatte zugesichert, an diesem Tag frühzeitig von seiner Versammlung zurückzukehren, damit sie noch bei Tageslicht in ein anderes Versteck umziehen konnten. Im Wald werde es allmählich zu gefährlich, hatte er gesagt, die Reiter des Franken-Karls durchkämmten mittlerweile auch bisher weniger zugängliche Gebiete. Deshalb hatte Widukind am Fluß eine im Gebüsch versteckte Lehmhütte mit einem unterirdischen Fluchtgang bauen lassen.

„Warum ist Vater immer noch nicht zurück?“ fragte Gevas älteste Tochter Heilwig, die mit ein paar Zweigen das schwelende Feuer gänzlich zum Ersticken brachte. „Was sollen wir nur tun, wenn sie ihn gefaßt haben?“

Geva erschrak. Es reichte, wenn sie sich Sorgen machte; die Sippe durfte keinesfalls noch mehr beunruhigt werden.

„Er und Abbio werden sicher gleich kommen“, murmelte sie.

„Nein, das werden sie nicht“, erwiderte Widukinds Schwester Gerda düster und wühlte mit den Fingern in blutigen Klumpen herum, die vor ihr auf der Erde lagen. „Es ist etwas Fürchterliches geschehen. Die Eingeweide irren nicht.“

„Unsinn! Nichts ist geschehen, Gerda!“ gab Geva heftig zurück. „Dein Vogelflug hat dir auch Sonne für den heutigen Tag vorhergesagt. Hör auf mit den Omen zu spielen, wenn du sie nicht lesen kannst!“
„Und wenn es stimmt?“ fragte die elfjährige Heilwig mit aufgerissenen Augen. „Der Franken-Karl und seine Männer sind doch jetzt überall. Wenn ihnen nun Vater und Oheim Abbio in die Hände gefallen sind …“
„… werden sie mit ihnen das tun, was sie mit Tausenden der Unseren in Verden getan haben“, vollendete Wibbo ihren Satz. Er hatte sich wieder auf dem Lehmboden niedergelassen und sah, gegen die Steinwand gelehnt, mit düsterem Blick zur offenen Tür in den Wald hinaus. „Auch damals hat der Himmel geweint. So sehr, daß das Eisen am Leib von Karls Kriegern rostete. Und ich bin nur entkommen, weil so viele Tote auf mir lagen und man mich auch für tot hielt. So sehr wüteten die Franken, daß die Beeke tagelang vom Blut unserer armen Brüder rot blieb. Möge Saxnot diesen König vernichten, der so viel Leid über unseren Stamm gebracht hat!“

„Der Vater wird ihn vernichten!“ rief der neunjährige Wigbert mit glänzenden Augen. „Er hat unter dem Vollmond von Marklo geschworen, fürchterliche Rache zu nehmen – zusammen mit unseren Brüdern, den Engern, den Ostfalen und den Nordliudi!“

Der Greis, der auf einem Strohlager in der Ecke lag, hustete trocken. „Der Weltenbaum ist gefallen“, krächzte er düster. „Die Eresburg längst eingenommen. In unseren eigenen Reihen herrscht Verrat. Wie lange werden unsere Götter noch diesem einen fürchterlichen Rachegott der Christen trotzen können? Auch Widukind, der Wotansohn, wird sich ihm beugen müssen. Das Ende ist nah, raunen die Ahnen.“
„Du redest wirr, alter Mann“, bemerkte Geva. Sie schob ihre dreijährige Tochter Gerswind vom Schoß, stand auf, durchquerte den Raum und schüttete Wasser aus dem Krug in einen Becher, den sie dem Greis vorsichtig an die Lippen hielt. „Mein Mann wird siegen. Saxnot, Wotan und Donar werden ihn und uns schützen.“ Widukind, Widukind, laß uns nicht allein! 

Während der Alte trank, stiegen Bilder eines kraftvollen Rituals in ihr auf. Ihr Bruder, König Siegfried von Dänemark, hatte es vor ihrer Abreise aus dem Nordland mit Widukind am Seeufer ausgeübt, und sie hatte es von einer verborgenen Stelle aus beobachtet. Von seinen Raben umflattert und seinen Wölfen begleitet, stieg damals Wotan, der Einäugige, aus dem Rauch der Opferstätte auf und malte mit seinem vielbesungenen Schwert Gungnir die Rune Thurisaz in den Sand. An seinem Finger blitzte Draupnir, der Zauberring. Als sich der Rauch und mit ihm der Gott verzogen hatte, spritzte an der Stelle, an der gerade noch ein Feuer gebrannt hatte, mit einem Mal eine Fontäne hoch. Der Strahl verwandelte die Rune, die Zerstörung und Neubeginn ankündigte, in die Rune Othala, das Zeichen für Heimat und Besitz. Geva hatte das heilsbringende Omen mit eigenen Augen gesehen und sich danach nicht mehr gesträubt, mit ihrer Familie ins heimatliche Sachsenland ihres Mannes zurückzukehren.

Widukind, der nach dreizehnjährigem Krieg gegen die Franken inzwischen von allen vier Sachsenstämmen als Kriegsherzog anerkannt wurde, konnte nicht länger von Dänemark aus den vereinten Kampf gegen Karl und seine Mannen führen. Und kurz vor Gerswinds Geburt gelang es ihm tatsächlich die Franken am Süntel empfindlich zu schlagen – ja, damals schien ihm die Gunst der Götter noch hold.

Doch dann geschah das Unglaubliche: Karl zog mit verlockenden Versprechen und wohl auch mit seinem unbarmherzigen neuen Gesetz Anführer der anderen Sachsenstämme auf seine Seite. Gerade, als Widukinds Stern am hellsten zu erstrahlen schien, lieferte der Sachsenadel die eigenen Bauernkrieger, die Widukind gefolgt waren, bei Verden dem Frankenkönig aus. Der ließ viertausendfünfhundert unbewaffnete Menschen gnadenlos abschlachten. Selbst unter den Christen sprach man nur flüsternd von dieser Metzelei, und die älteren von ihnen fühlten sich an das Blutgericht von Cannstatt erinnert, bei dem König Karls Oheim Karlmann sechsunddreißig Jahre zuvor den Aufstand der Alemannen niedergeschlagen hatte. Karlmann hatte danach dem weltlichen Leben entsagt und war ins Kloster gegangen. Das durfte man von seinem machthungrigen Neffen Karl allerdings nicht erwarten.

„Warum verraten uns unsere eigenen Brüder?“ hatte Geva damals entsetzt gerufen.

„Der Christenkönig lockt unsere Führer mit seinen Gesetzen“, war Widukinds Antwort gewesen. „Er macht aus freien Bauern unfreie, die ihren Herren gegenüber abgabepflichtig sind. Wenn sich unsere Edlinge Karl anschließen und sich mit diesem seltsamen Wasserritual zum Christengott bekennen, sind sie nur noch ihm und dem König verantwortlich und müssen sich den Beschlüssen des Thing nicht mehr unterwerfen. Wer die Götter und unsere Bräuche verrät, erhält von Karl mehr Macht und wird von ihm reich beschenkt. Solchen Leuten fällt es leichter als den Armen, dem neuen Gott den Zehnten ihres Einkommens zu entrichten! Nein, Geva, auf unsere sächsischen Edlinge können wir nicht mehr bauen.“

Die brauchen ihre Sippen auch nicht in einem steinernen Waldhaus zu verbergen und werden nicht mehr quer durchs Land gehetzt, dachte Geva jetzt. Vor sich selbst konnte sie nicht mehr leugnen, daß ihr Mann zum Flüchtling im eigenen Land geworden war, doch vor der Sippe durfte sie das nicht zugeben. Auch wenn sie sich schon längst ihre Gedanken über eine andere als heilsbringende Bedeutung der beiden Runen am Meeresstrand gemacht hatte. Damals hatte sie nur daran gedacht, daß Thurisaz den Weg für einen Neubeginn freimacht. Das Unglück, das diese Rune vorhersagt, Größenwahn, Machtmißbrauch und Selbstüberschätzung hatte sie auf den Frankenkönig bezogen. Jetzt dachte sie immer öfter daran, daß dieses Zeichen nicht nur mißgünstige Kräfte abwehrt, sondern auch gebrochenen Widerstand bedeutet und Othila, die andere Rune, Veränderungen überlieferter Gewohnheiten ankündigt. Angst schnürte ihr wieder die Kehle zu. In Kürze würde es dunkel werden, und dann war mit Widukinds Rückkehr an diesem Tag nicht mehr zu rechnen. Dann wartete eine weitere schlaflose Nacht voller Bangen auf sie.

„Er wird untergehen. Und wir mit ihm. Karl hat die Langobarden vernichtet. Wir sind die nächsten“, unkte der alte Mann.

Geva unterdrückte ihren inneren Aufruhr und setzte dem Kranken betont ruhig wieder den Becher an den Mund.

„Das Reden schwächt dich, alter Mann. Was haben wir mit den Langobarden zu schaffen! Niemand kennt sich in Wald, Heide und Sumpf so gut aus wie Widukind. Wer sonst ist schon auf den Gedanken gekommen, die Hufe der Pferde verkehrt herum zu beschlagen, um den Feind in die Irre zu führen! Die Franken mögen mehr Mannen, Waffen und Pferde haben, doch wir haben Widukind.“ Sie blickte auf.
„Wo ist Gerswind?“ fragte sie in die Runde.

„Weg“, nuschelte der fünfjährige Siegfried, nahm den Daumen aus dem Mund und deutete zur Tür.
Geva fuhr hoch und stürzte nach draußen. Man durfte Gerswind wirklich keinen Augenblick unbeaufsichtigt lassen! Sie nutzte jede Gelegenheit, durch den Wald zu streunen. Erst kürzlich war sie wieder ausgebrochen und zum Flußufer gelaufen, um Beeren von den Sträuchern zu pflücken. Als sie Hufgetrappel hörte, hatte sie sich nicht versteckt, wie ihr ständig eingebleut worden war, sondern war den Reitern entgegengerannt. Sie mußte unbedingt sehen, weshalb sie aus der Ferne so wunderschön glitzerten. „Glänzende Reiter sind gefährlich!“ schärfte ihr Widukind am Abend ein, als er die von Franken erbeutete Brünne in einer Ecke des Raums niederlegte. „Du darfst ihnen niemals nahe kommen, hast du verstanden?“ Gerswind hatte gefügig genickt und auf die Frage ihres Vaters, wie sie sich im Wald zu verhalten habe, gehorsam den ihr ständig vorgehaltenen Satz nachgeplappert: „Ich muß zu einem Teil von ihm werden, zu einem Strauch unter Sträuchern, einem Baum unter Bäumen.“ Inständig hoffte Geva, daß ihre Tochter endlich diese Lektion gelernt hatte. Sie, Geva, würde ihre Tochter schon unter den Sträuchern und Bäumen erkennen! Sehr weit konnte das Kind diesmal jedenfalls nicht gekommen sein. Der Regen hatte endlich ausgesetzt, und ein schmaler Sonnenstrahl stahl sich durchs Blattwerk auf den Schlammboden vor dem steinernen Waldhaus.

Doch die winzigen Spuren von Gerswinds nackten Füßchen verloren sich an einer bemoosten Stelle. „Heilwig und Wigbert!“ rief Geva ins Haus, „kommt sofort raus und helft mir eure Schwester suchen!“
                                  *
Widukind und sein Schwager Abbio bestiegen schweigend die Pferde, die sie am Eingang der Grotte festgebunden hatten. Wieder einmal hatte sich zur Versammlung eine weitaus geringere Zahl von Schwertgenossen als beim Mal zuvor eingestellt. Zwei Tage hatte das kleine Häuflein in der Grotte ausgeharrt, hoffend, daß die anderen sich nur verspätet haben mochten. Während sich die beiden Männer den Weg durch den Wald bahnten, hing jeder seinen eigenen düsteren Gedanken nach. Stundenlang fiel zwischen ihnen kein Wort.

„Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen“, brach Abbio endlich das Schweigen. „Wieder haben die Franken zwei große Gruppen der Unseren in eine fremde Gegend verbracht, wo sie ein neues Leben beginnen sollen. Von den vielen anderen wissen wir nicht, was ihnen geschehen ist. Ob sie tot, aufgegriffen oder zum Feind übergelaufen sind. Dieses Gesetz gegen uns Sachsen hat Schrecken in alle Herzen gesät …“

„Still!“ Widukind zügelte seinen Rappen. „Riechst du den Rauch?“

Abbio hielt inne und nickte beunruhigt. „Die Feuerstelle …“, sagte er tonlos, doch beide Männer wußten, daß sie aus dieser Entfernung den Rauch des Kochfeuers nicht hätten wahrnehmen dürfen. Und beide trieben sofort die Pferde an. Widukind, der König der List, der Meister der Behutsamkeit und Umsicht, dachte keinen Augenblick an die Gefahr, die auf ihn lauern könnte, sondern nur daran, daß er nicht zu spät kommen durfte, um die Seinen zu retten.

Der Anblick, der sich ihnen bot, ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Dichte Rauchschwaden stiegen aus dem Steinhaus empor, aus den schmalen Fenstern loderten Flammen, und glühende Holzbalken fielen krachend ins Innere. Vor dem Gebäude lag Abbios Sohn Siegfried mit eingeschlagenem Kopf, und durch die offene Tür waren auf dem Boden des Hauses im Flammenschein Schemen regloser Körper zu erkennen. Abbio stieß einen Schrei aus, sprang vom Pferd, warf die Regentonne um, daß sich ihr Inhalt in den Eingang ergoß und wollte ins Haus stürzen. Nur mit Mühe konnte ihn Widukind zurückhalten.
„Denen dort drinnen können wir nicht mehr helfen!“ brüllte er, „es bleibt nur die Rache! Die Mörder können nicht weit sein.“ Er griff an den Gürtel, wo neben der Wurfaxt und dem Messer der Langsax baumelte. 
Abbio starrte ihn entgeistert an, entwand sich Widukinds Griff und ließ sich zu Boden sinken. Er bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.

„Nein, nein, nein …“, murmelte er, „es ist vorbei, Widukind, es ist vorbei.“ Mühsam richtete er sich wieder auf. Tränen strömten über sein Gesicht, und diesmal hielt ihn Widukind nicht auf, als er das verqualmte Waldhaus betrat. Noch am Abend bauten sie hinter dem Haus einen großen Scheiterhaufen und überantworteten die bereits halbverkohlten Leichen endgültig dem Feuer.

„Friede ihrer Asche“, murmelte Widukind und dachte kurz daran, daß er nach Karls neuem Gesetz schon deswegen als todgeweiht galt, weil er die Seinen nach altem Ritus verbrannte. Vierzehn Menschen waren in der Waldhütte umgebracht worden, darunter Gerda, Abbios Frau und Widukinds Schwester, sowie deren Sohn Siegfried. Auch der lahme Wibbo, dessen Großvater, zwei weitere Basen und zwei Kleinkinder, die das Sprechen noch nicht erlernt hatten sowie zwei zwölfjährige Knaben, die gerade das Mannbarkeitsalter erreicht hatten. Von Geva, Heilwig, Wigbert und Gerswind aber fehlte jede Spur.

Die Königsmacherin – Leseprobe

Die vertauschte Braut

Armut, Schmutz und Elend waren Vater Gregorius nicht fremd. Aber noch nie hatten seine Augen solch ein Geschöpf gesehen, wie jenes, das an diesem warmen Spätsommerabend des Jahres 741 die Holzpforte zum Klostergarten der Abtei aufgestoßen hatte.

Es schien weder Mann noch Frau zu sein, war vielleicht überhaupt nicht menschlich. Als sei es den Tiefen der Erde entstiegen, von Gluten gegerbt, von Kohle gebeizt, durch Schlamm gezogen, von Wurzeln zerkratzt und Flechten umschlungen, stand es stumm in der Toröffnung. Wirre Zotteln in allen Herbstfarben verdeckten fast gänzlich die Fläche, wo sich bei Menschen das Gesicht befindet, und unter dem schmutzsteifen Überwurf staken statt der Füße zwei riesige unförmige Klumpen wie aus reinem Erdreich hervor.

„Jesus Christus, Allmächtiger!“ entfuhr es dem Abt, den das leise Quietschen der Pforte aus seinem Gespräch mit der Klosterstifterin am Kräuterbeet herausgerissen hatte.

„Darunter verbergen sich bestimmt keine Hufe, mein lieber Freund“, sagte die hagere Frau, dem Blick des Abtes folgend. Sie trat auf das Wesen zu, wechselte vom Lateinischen ins Deutsche über und fragte: „Wie heißt du, mein Kind, woher kommst du und wohin des Weges?“

„Gestatte mir zunächst die Frage, edle Frau, ob dieses Anwesen die Abtei zu Prüm beherbergt“, kam eine Replik in wohlgesetztem Latein. Die Heiserkeit der Stimme täuschte nicht darüber hinweg, dass die Kreatur zweifelsfrei weiblichen Geschlechts, von vornehmer Abstammung und noch dazu ziemlich jung war.

Höflich bestätigte die Klosterstifterin Bertrada von der Burg Mürlenbach, die von allen nur Frau Berta genannt wurde, dass sich dieses so verhalte und bat die Fremde noch einmal um ihren Namen. Das Wesen teilte mit zwei verschmutzten Händen den struppigen Gesichtsvorhang und blickte aus hellgrünen Augen, die sich in dem rußigen Gesicht seltsam klar ausnahmen, an der Klosterstifterin und dem Abt vorbei in den blühenden Garten.

Ihrer Antwort: „Flora“ folgte ein Seufzer. Der Abt und die Klosterstifterin sprachen gleichzeitig:
„Was führt dich hierher?“

„Wer ist dein Vater?“

Der langgezogene Seufzer ging in ein fast unverständliches Murmeln über: „Hunger.“

Frau Berta sah den Abt an. Hatte er die Fremde vielleicht verstanden? Er hob die Schultern. „Ungarn?“ brummte er fragend. Die Klosterstifterin trat einen Schritt näher, legte die Hand ans Ohr und fragte: „Heißt du Flora von Ungarn?“

Die Fremde nickte und sank ohne ein weiteres Wort zu Boden. Vater Gregorius streckte spontan die Arme aus, ließ sie aber dann hilflos zur Seite fallen und sandte der älteren Frau einen verzweifelten Blick zu. Die hatte schon einen jungen Mönch herbeigewinkt, der, einen Holzkarren mit Erde hinter sich her ziehend, neugierig näher gekommen war.

„Du kannst hier ab- und wieder aufladen“, erklärte Frau Berta und deutete auf die reglose Figur am Boden. „Und da ich sie nicht allein in den Karren schaffen kann, wirst du mir helfen.“

„Aber …“, begann der Abt.

„Ich weiß, ehrwürdiger Vater, den Körper einer Frau dürft ihr nicht berühren, aber der Herrgott hat meines Wissens nach nichts von Lumpen gesagt. Sofern er überhaupt etwas von eurem Umgang mit Frauen gesagt hat …“ Sie bückte sich und hob den Umhang leicht an, der die Gestalt jetzt gänzlich bedeckte, und sagte zu dem jungen Mönch: „Unter Schichten verkrusteten Tuchs mag sich irgendwo der Fuß verbergen, aber vertrau mir, er ist deinem Zugriff entzogen, und du wirst der Sünde nicht näher sein, wenn du mir hilfst, diesen Haufen verfaulter Lappen zu bewegen.“ Sonst erzähle ich dem Väterchen Abt noch, weshalb ihr abends so gern am Flussufer lustwandelt, dachte sie grimmig.

Erst vor einer Woche war wieder eine der angelsächsischen Frauen bei ihr erschienen und hatte um Arbeit im Mürlenbacher Längshaus nachgesucht, ja, sie angebettelt, gegen Speise und Unterkunft dort Altartuch oder Kleidung anfertigen zu dürfen. Spinnen, nähen, färben, weben, sticken, waschen – alles sei ihr lieber, als für Brot, Wein, Bier oder ein paar Münzen weiterhin den Mönchen am Flussufer zu Willen zu sein. Warum sie denn nicht in ihre Heimat zurückkehre, hatte die Klosterstifterin gefragt. Die Frau aus Albion hatte ihr Gesicht verhüllt. Sie könne ihrer Familie nie wieder unter die Augen treten. Als ehrbare Pilgerin habe sie ihr Vaterland verlassen, als Hure werde sie in der Fremde sterben. Frau Berta hatte der Frau, die mit Sicherheit nicht zum Frondienst geboren war, einen Platz im Färbereiraum ihres Mürlenbacher Genitiums, der Tuchmacherei, zugewiesen.

So geht das nicht weiter! Ich muss Erzbischof Bonifatius bei seinem nächsten Besuch unbedingt die Not der Frauen aus seiner Heimat schildern. Nein, ich darf gar nicht daran denken, dass er vielleicht sogar mitschuldig an ihrem Los ist. Warum schwärmt er auch so laut und so heftig von Rom! Das führt doch diese unglückseligen Frauen erst auf den Weg ins Verderben! Wie einfältig zu glauben, einer allein reisenden Frau genüge der Schutz des Herrn, wenn ihr unterwegs so viele Männer begegnen! Diesen Pilgerreisen Einhalt zu gebieten wird dem guten Bonifatius wohl weitaus schwerer fallen, als vor staunenden Heiden eine heilige Eiche zu fällen! Eine Angelsächsin ist diese Flora von Ungarn jedenfalls nicht, dafür ist ihr Lateinisch zu wohlklingend. Und für eine Rompilgerin hat sie sich zu weit nach Norden verirrt und ist viel zu vornehmer Herkunft. Solch gepflegtes Latein spricht man nur in den feinsten Familien. In meiner zum Beispiel. Außerdem würde keine edle Frau ohne erfahrenen Begleitschutz nach Rom ziehen. Allerdings ist mir auch noch keine edle Frau begegnet, die derart abscheulich zugerichtet ist und so erbärmlich stinkt. Daneben ist ja meine Pferdescheune nach dem Bierfest der Knechte ein Hort des Wohlgeruchs! Aber ich finde schon noch heraus, was oder wer sich unter diesen Hüllen versteckt!
   
„Los!“ befahl Frau Berta ungeduldig und griff selbst dorthin, wo sie die Schultern der weiblichen Gestalt vermutete. Der Mönch kippte die Erde aus, fahndete mit abgewandtem Gesicht nach den Füßen und half, die bewusstlose Frau in den Karren zu heben.

Vater Gregorius hatte sich inzwischen ohne ein weiteres Wort entfernt. Er mochte zwar der Abt des Klosters sein, aber wenn die Abteistifterin in Prüm weilte, wusste selbst der ergebenste Mönch, wer dann tatsächlich den Ton angab. Was sehr ärgerlich war, da Frau Berta vor zwanzig Jahren ihren Anteil von Prüm und Rommersheim ja eigentlich der Abtei gestiftet hatte. Gut, die Abgaben wurden jetzt ans Kloster entrichtet, aber es lag nun mal nicht in Frau Bertas Natur, sich von dem einmal Geschenkten auch tatsächlich zu trennen. Wieder einmal ärgerte sich Vater Gregorius, dass sein Vorgänger ihr ein Mitspracherecht bei allen Entscheidungen zugesagt hatte, und dass er selbst einfach zu schwach war, sich dieser resoluten Edelfrau zu widersetzen. Es war außerordentlich demütigend, dass er ihre Anordnungen widerspruchslos entgegen nahm und auch noch befolgte! Immer wieder hatte er den Federkiel angespitzt, um sich bei der höchsten Stelle, nämlich beim Hausmeier persönlich, über die Einmischung dieser überaus weltlichen Edelfrau zu beschweren, hatte den Brief aber dann doch nicht geschrieben.

Frau Bertas Güter reichten von den kahlen Hängen des Eifelgaus bis an die üppig begrünten Moselberge. Eine Witwe mit so viel Grundbesitz verfügte über erheblich mehr Macht als der arme Abt eines eher unbedeutenden Klosters. Warum hatte sie nicht wie andere vornehme Witwen irgendwo ein Frauenkloster gegründet? Da hätte sie sich selbst als Äbtissin einsetzen und die Novizinnen tyrannisieren können! Vater Gregorius stieß einen tiefen Seufzer aus, als er die Tür zum kleinen Skriptorium aufstieß. Bonifatius hatte Recht. Es wurde höchste Zeit, dass sich die fränkische Kirche endlich der römischen anschloss! Schließlich hatten Frauen in einem römischen Männerkloster nichts zu sagen. Mulier taceat in ecclesia. 

Nicht zum ersten Mal bedauerte Vater Gregorius, dass der Arm des Papstes immer noch so kurz war. Aber vielleicht würde sich das mit Hilfe des Bonifatius bald ändern. Der sah in der römischen Kirchenverfassung, in der Unterordnung aller einzelnen Kirchen, also auch der fränkischen, unter Bischöfe, und der Bischöfe wiederum unter den Papst die einzige Rettung vor Verwilderung in Sitte und Lehre der Geistlichen und des Volkes. Bei seinem letzten Besuch hatte er Vater Gregorius gefragt, ob er sich zutraue, in Prüm alle Bischöfe Austriens zu beherbergen. Er erwäge nämlich, hier eine Kirchenversammlung abzuhalten, ein so genanntes Konzil. Eine unerhörte Initiative, hatte Vater Gregorius damals gedacht. Aber als ihm kurz danach zu Ohren kam, dass einer seiner Mönche den Streit mit dem Ehemann einer Halbfreien mit einem wahrhaftigen Schwert ausgetragen hatte, konnte er Bonifatius nur recht geben: Es wurde Zeit, die Kirchenzucht einzuschärfen. An das allnächtliche Treiben am Ufer der Prüm durfte er gar nicht denken. Und Frauen sollten wissen, wo sie hingehörten. In der Bibel war das klar und deutlich formuliert. Jetzt war es an der Zeit, allgemein verbindliche Gesetze zu schaffen.

Frau Berta, die Klosterstifterin, war leicht brüskiert, dass sich der Abt wortlos verabschiedet hatte, doch sie vergaß den Bruch der Etikette schnell. Ihre Gedanken kreisten um die fremde Frau. Aber selbst, wenn sie nicht anderweitig beschäftigt gewesen wäre, hätte sie sich nie vorstellen können, dass Vater Gregorius ihr gegenüber einen Groll hegte. Sie war es gewohnt, dass man auf ihr Wort hörte und nichts in Frage stellte. Schließlich hatte sie dafür gesorgt, dass es den Menschen und den Mönchen in Prüm gut ging. Sie hatte die Rodung und Kultivierung des Bodens überwacht, die Seifensiederei, die Kornmühle, die Netzmacherei, die Weinkelterei und die Bierbrauerei eingerichtet und die kleine Siedlung am Hang erbauen lassen. Nicht nur den Gebeten der Mönche war zu verdanken, dass der Spelt, die Weizensorte, die in der Prümer Kalkmulde gedieh, jeden Mai schon so hoch stand, dass sich ein Hase darin verstecken konnte. 
Frau Bertas Blick streifte das Hospital der Abtei, in dem zwölf arme Männer mit körperlichen Gebrechen untergebracht waren. Bei der Gründung des Klosters hatte sie darauf bestanden, dass die Einkünfte aus ihrem Gut Wesselsdorf den Unterhalt dieser bedauernswerten Kreaturen bezahlen sollten. Diese Männer nahmen den Mönchen mancherlei Arbeit ab: Sie säuberten das Klostergelände, entfernten menschliche und tierische Ausscheidungen, flickten die Palisaden, läuteten die Glocken, pflegten die Kranken und hielten bei Bedarf auch Totenwache. Frau Berta erwartete keine Dankbarkeit für ihre wohltätigen Werke, fand es aber auch nicht zu viel verlangt, dass man ihr dabei keine Steine in den Weg legte.

Jetzt ging sie neben dem Mönch und seiner Fuhre her und schüttelte den Kopf, als er vor dem Eingang zum Hospital anhielt und die Tür mit dem Fuß aufstoßen wollte.

„Diese Lumpen bedecken eine edle Frau“, sagte sie knapp und wies mit einem Nicken zum Gästehaus der Vornehmen.

Die Schattenjägerin – Leseprobe

Die Kindsbraut

1406-1415
Es war noch dunkel, als Jakoba aufwachte. Mit Hagel durchsetzter Gewitterregen peitschte gegen die Fenster und wie ein Klageweib heulte der Sturmwind um das alte Gemäuer von Schloss Le Quesnoy. Zitternd setzte sich das Kind auf, zog die Beine an und wickelte sich in seine Decken ein.

Ein Blitz erhellte für einen Augenblick das Zimmer. Vor dem Bett stand eine fremde Frau in einem weißen Nachtgewand. Ihr Gesicht war hohnverzerrt und in der Hand hielt sie etwas Rotes aus Stoff. Jakoba wich zurück und schrie. Ein Donnerschlag erstickte den Ruf. Beim nächsten Blitz war die Erscheinung verschwunden.

Mit den Decken um die Schultern kroch Jakoba aus dem Bett und tastete sich zum Lager ihrer Kinderfrau vor. Als sie mit den Füßen gegen einen umgestürzten Bierkrug stieß und das pfeifende Schnarchen Mechthilds vernahm, wusste Jakoba, dass sie hier vergeblich Schutz suchte. Wo konnte sie hin?
Natürlich zum Vater. Wenn er nur nicht wieder die Nacht bei einer der anderen Frauen verbrachte! Jakoba mochte diese Frauen nicht, die so viel Aufmerksamkeit ihres Vaters einforderten und ihm einen Sohn nach dem anderen gebaren. Sie brauche nicht eifersüchtig zu sein, hatte der Vater ihr oft versichert. Die Bastarde habe er zwar auch ein bisschen lieb, aber sie sei und bleibe seine einzige Erbin. Dereinst werde sie Gräfin von Holland, Seeland und dem Hennegau sowie Herrin von Friesland sein und wahrscheinlich auch noch einen schönen Titel ihres künftigen Gemahls führen.

Auf dem kalten, zugigen Gang vor ihrem Zimmer blieb Jakoba unschlüssig stehen, bis sie zwischen den Donnerschlägen gedämpftes Stimmengewirr hörte. Eilig lief sie den von nur einer Fackel erleuchteten Gang entlang bis zur Empore, von der aus sie den Rittersaal überblicken konnte.

Das Gelage war noch im Gange, auch wenn die Spielleute bis auf eine dunkelhaarige Harfenspielerin ihre Instrumente schon niedergelegt hatten. Jakoba sah nur noch einen Hund, der unter den Tischen nach Essbarem fahndete. Die anderen Tiere lagen dicht aneinander gedrängt vor dem geflochtenen Ofenschirm an der großen Feuerstelle. Am fernen Ende des Saals stritten sich zwei Ritter um eine Frau, der das Brusttuch bereits abhandengekommen war und die nur noch halbherzige Anstrengungen unternahm, die Hände der Männer von sich abzuhalten. Viele von Wein oder Bier schwer gewordene Köpfe ruhten zwischen Schüsseln auf den bekleckerten Tischen, manch ein Zecher war von der Bank gerutscht, und aus unbeleuchteten Ecken drang unterdrücktes Kichern. Zu kurz zuckten die Blitze, als das; Jakoba hätte erkennen können, was die bewegten Leiber dort trieben.

Direkt unter ihr stand der erhöhte Tisch ihrer Eltern. Sie traute sich nicht, den Kopf übers Geländer der Empore zu halten, da sie nicht wusste, wie weit der Schein der Kerzen in den hohen Ständern und der Fackeln in den geschmiedeten Haltern reichte. Sie sah nur das Ende der langen Tafel, wo sich der winzige Tischhund ihrer Mutter auf die Hinterbeinchen gestellt hatte und versuchte an die Speisereste im silbernen Almosenschiff heranzukommen. Der Aufschneider säbelte am Tranchiertisch ein Stück vom Hirschkuhbraten ab und hielt es dem Hündchen hin. Jakoba verzog das Gesicht, als er sich danach in die Hand schnäuzte. Er nahm dafür nicht, wie es sich gehörte, die Hand, die das Messer hielt, sondern die, mit der er aß.

Ihr war schon öfter aufgefallen, dass sich Erwachsene offensichtlich nicht an die zehn Tischregeln zu halten hatten, die ihrer Mutter Marguerite als eine wichtige Erziehungsgrundlage galten. Jakoba hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Würdenträger ihre Zähne am Tischtuch gesäubert hatten! Sogar ihr Vater tunkte Bissen ins Salzfass und spuckte zerkaute Fleischstücke aus.

»Quod licet jovi, non licet bovi« bemerkte Marguerite kühl, wenn Jakoba sie darauf hinwies. Gut, ihr Vater war vielleicht so etwas wie ein Gott, aber das machte seine Tochter doch nicht zum Rindvieh!
Diener sammelten von einigen Tischen die Essunterlagen ein, jene Soßen getränkten Brotscheiben, auf denen noch Fleisch- und Geflügelreste klebten und die zusammen mit dem Inhalt des Almosenschiffes an die wartenden Armen der Umgebung vor dem Tor des Schlosses verteilt wurden. Jakoba gruselte sich jeden Tag aufs Neue vor diesen dunklen abgerissenen Gestalten mit wirren Haaren, wilden Augen und widerlichen Hautkrankheiten, die sich um diese Krumen von den Tischen der Reichen rissen.

Ihren Vater, der mit dem Rücken zum Kamin am Kopfende saß, konnte sie nicht sehen, aber sie horchte auf, als er in seinem etwas hölzernen Französisch rief: »Meine Tochter ist also Teil eines Kuhhandels! Ihr habt Jakoba verkauft!«

Jakoba erstarrte. Verkaufen hieß nie wieder sehen. Das hatte sie gelernt, als ihr Lieblingspferd verkauft worden war. Und jetzt hatte man sie selbst verkauft! Was bedeutete das?

War sie dann doch eine Art Rindvieh? Ihr Vater konnte nicht zulassen, dass sie verkauft wurde, er war Herzog Wilhelm, Graf von Holland, Seeland und dem Hennegau, der mächtigste Mann im Land, hatte ihre Bastardschwester Beatrix behauptet.

Jakoba dachte nicht mehr an die Kerzen, die sie verraten könnten, sie blickte über das Geländer auf die Köpfe darunter.

»Das ist das Los von Fürstentöchtern*, bemerkte der Bruder ihrer Mutter, Herzog Johann von Burgund, dem zu Ehren dieses Fest gegeben wurde. Jakoba erkannte ihn an seiner Stimme und der extravaganten Kleidung aus Goldtuch und violetter Seide. Sein Gesicht lag im Schatten der kompliziert gebundenen üppigen Kopfbedeckung aus rotem Samt mit Rosen aus Rubinen.

»Natürlich musst du deine Tochter weggeben!« Das war Johann von Bayern, der Bruder ihres Vaters, der mit diesen Worten seinen Platz als Lieblingsonkel bei Jakoba verspielte. Sein Vater, Jakobas Großvater, der im vergangenen Jahr gestorbene Herzog Albrecht von Bayern, hatte seinem jüngsten Sohn die kirchliche Laufbahn vorgeschrieben und dessen Wahl zum Bischof von Lüttich geregelt. Johann von Bayern
wollte aber keine höhere Weihe als die zum Subdiakon empfangen. Er war gewissermaßen Bischof im Wartestand. Damit hielt er sich die Möglichkeit offen, aus dem Kirchendienst auszuscheiden, falls sich ihm etwas Interessanteres bieten sollte.

»Wenn man bedenkt … «die klangvolle, aber kalte Stimme ihrer Mutter Marguerite ließ Jakoba erschauern, » … dass du sie gleich nach der Geburt am Tag des Heiligen Jakob am liebsten ertränkt hättest …«

»Verständlich«, meldete sich wieder Johann von Bayern, »wenn die Ehefrau nach sechzehnjähriger Ehe nur mit einer Tochter dienen kann. Jetzt ist Jakoba beinahe fünf. Wo bleibt der Erbe?«

Ein Blitz tauchte die Gesellschaft für einen Augenblick in grelles Licht. Mitten im Rittersaal sah Jakoba wieder die fremde Frau im weißen Gewand mit dem roten Stoff in der Hand. Ihre Füße schienen den Boden nicht zu berühren. Die Frau blickte zur Empore hinauf und fletschte die Zähne wie ein Hund, der gleich zubeißen würde. Jakoba floh. Sie rannte den Gang zurück zu ihrem Zimmer, riss die Tür auf, stürzte auf Mechthild zu und rüttelte die Kinderfrau wach.

»Lass das, Jakoba,« murrte Mechthild. »Geh ins Bett, sonst rufe ich den schwarzen Ritter, damit er dich holt.«

Noch eine Bedrohung! War sie denn nirgendwo sicher? Gab es niemanden, der sie beschützen konnte? Jakoba lief im Zimmer auf und ab, hatte Angst, ins Bett zu gehen und einzuschlafen.

Wenn sie wieder aufwachte, würde man sie wie ihr Lieblingspferd an einer Leine aus dem Schloss führen. Sie war verkauft worden und konnte gar nichts dagegen unternehmen.

Wirklich nicht? Wenn sie nun weglief …

Die Eigensinnige – Leseprobe

(früher: „Die Frau, die nichts tut“)

HOLLAND

Ausgerechnet Finnland! Warum hatte die Freundin meiner Mutter keinen Indonesier geheiratet? Oder einen Griechen?

Als ich von der Reling der Finnhansa über die endlos graue Fläche der Ostsee blickte, konnte ich mir Finnland mühelos als ein ständig von Schnee und Eis überzogenes Land vorstellen. Bei strahlendem Spätsommerwetter hatten wir Lübeck verlassen. Aber binnen weniger Stunden stand ich schon in dicker Winterjacke auf Deck und fuhr der kalten Jahreszeit entgegen.

Nein, ein Grieche hätte nichts genutzt, schließlich gab es in seinem Land nur wenig Wald. Wenig Wald, wenig Holz, also wenig Arbeit für meinen Vater. Wenn man sein Herumhobeln überhaupt als Arbeit bezeichnen konnte. Seine Mutter hatte für die künstlerischen Ambitionen ihres Sohnes nur ein Wort gekannt: erschütternd. Nicht etwa, dass seine Werke die Welt oder den Betrachter erschüttert hätten, nein, erschütternd war die Tatsache, dass Wilhelm Meander mit der Bildhauerei seinen Lebensunterhalt bestreiten wollte.

Vieles hatte Großmama Meander erschüttert. Zum Beispiel, dass mein Vater eine holländische Halbindonesierin geheiratet hatte. Am meisten aber hatte sie seine Weigerung erschüttert, die Tradition des Hauses Meander fortzusetzen und nach Gründung der Bundeswehr wieder Offizier zu werden. Wenn mein Vater entgegnete, er hätte sich in den Jahren bei der Wehrmacht geschämt, eine deutsche Uniform zu tragen, legte meine Großmutter zur Strafe eine ihrer Platten mit Marschmusik auf. Als Reaktion darauf stellte mein Vater in der angrenzenden Werkstatt die Kreissäge an. Ich genoss den Höllenlärm, weil ich dann aus voller Kehle schreien konnte. Das trug mir zwar Prügel von der Großmutter ein, aber dann kam der schönste Teil des Tages. Meine zierliche Mutter, die fast nie den Mund aufmachte, stürzte ins Zimmer und entriss mich der Großmutter. Sie drohte ihr, sie umzubringen, wenn sie noch einmal Hand an mich legte, und nahm mich mit in ihr Heiligtum. Während wir die steile Treppe zum Dachboden hinaufkletterten, hörten wir die Großmutter noch toben: »Die Halbwilde muss raus!«

Dass sie damit meine Mutter meinte, begriff ich erst, als ich älter war und erfuhr, dass meine Mutter in einem weit entfernten Land geboren war. In einem Land, wo immer die Sonne schien, wo niemand laut wurde und alle Menschen fröhlich waren.

Im Heiligtum meiner Mutter saßen wir unter der Dachschräge im Schneidersitz auf Bambusmatten. Meine Mutter zündete ein Räucherstäbchen an, wickelte mich in bunte Stoffe und zog aus einem zerbeulten Koffer kleine Stofftütchen mit wohlriechenden Gewürzen. Manchmal hängte sie auch ein Laken über eine Leine, richtete einen Lichtstrahl darauf und kroch dahinter. Mit ihren Fingern und kleinen Gegenständen erzählte sie mir dann eine Schattenspielgeschichte. Sie hatte meinen Vater einmal gebeten, ihr richtige Wajang-Puppen zu machen, aber er meinte, ihm würden nur großformatige Werke liegen. Um die mächtigen Baumstämme, aus denen er bizarre Formen gestaltete, in die Werkstatt zu wuchten, hatte er sogar ein riesiges Stück Außenmauer entfernt und ein Garagentor eingesetzt.

Immer, wenn wir allein waren, sprach meine Mutter niederländisch mit mir und ich begriff es als Auszeichnung, mich mit ihr in einer Sprache zu unterhalten, die meine Großmutter und mein Vater weder verstanden noch billigten. Sie hatten ihr sogar ausdrücklich verboten, mit mir in ihrer Muttersprache – oder in ihrem Fall Vatersprache – zu reden, und zwar mit der Begründung, dass dies meinem Deutsch abträglich sei. Ich könnte genauso gut gleich Plattdeutsch lernen. Dies war der einzige Punkt, in dem sich meine sonst immer fügsame Mutter den Autoritäten im Haus widersetzte. Sie sagte mir, sie wolle nicht den gleichen Fehler begehen wie ihre Mutter, deren Mann ihr ebenfalls verboten hätte, in ihrer eigenen Sprache mit ihrer Tochter zu sprechen. Heute bin ich meiner Mutter sehr dankbar, dass ich auf diese Weise fast akzentfrei Niederländisch sprechen gelernt habe.

Da mein Vater mit seinen Bildhauerarbeiten kein Geld verdiente, waren wir von Großmama abhängig. Sie erinnerte uns gern daran.

»Die erste Generation erwirbt es, die zweite vermehrt es, und du, die dritte, verschleuderst es!«, warf sie meinem Vater eines Abends beim Essen vor und wies auf das Fischfleisch, das noch zwischen den Gräten steckte, die mein Vater auf den Resteteller gelegt hatte. Er würde sich ja gern irgendwo als ungelernter Handwerker anstellen lassen, meinte mein Vater, aber diese Worte erschütterten Großmama so sehr, dass ihr mächtiger Leib zu beben begann.

»Nur über meine Leiche! Ich werde doch nicht zulassen, dass ein Sohn von mir niedere Arbeiten verrichtet. Noch dazu ein Offizier!« Sie beförderte das Grätenstück auf ihren Teller und harkte mit der Gabel die Fischfasern heraus. Erlernt habe er aber nur das Kriegshandwerk, entgegnete mein Vater, was ihm ein donnerndes »Eben!« und die Aufforderung einbrachte, sich augenblicklich bei der Bundeswehr zu melden.
Dafür wäre er inzwischen viel zu alt, erwiderte mein Vater.

»Du Verschwender!«, rief Großmama, und um ihm deutlich zu machen, dass sie damit nicht nur sein vergeudetes Leben meinte, zeigte sie ihm triumphierend die Fischausbeute auf der Gabel, bevor sie diese zum Mund führte und den Bissen schluckte.

Dann geschah alles ganz schnell. Großmama lief rot an, hustete und würgte. Aus herausquellenden Augen starrte sie uns erschüttert an, klopfte sich mit dem Zeigefinger an die Kehle, machte noch ein paar entsetzliche Geräusche und starb. Alle drei blieben wir wie gelähmt am Tisch sitzen. Das Normale wäre wohl gewesen, dass wir irgendwas getan hätten.

Aber meine Großmutter hatte, von Erziehungsprügeln abgesehen, nie auch nur den geringsten körperlichen Kontakt geduldet. Selbst in einer solch extremen Situation war es undenkbar, ihr wild auf den Rücken zu klopfen, ihr ein Glas Wasser an den Mund zu halten, ihr von hinten den Brustkorb zuzudrücken oder gar zu versuchen, sie auf den Kopf zu stellen.

»Und jetzt?«, fragte meine Mutter verzagt, nachdem Großmama mit einem letzten Donnern vom Stuhl fiel.

Ein Jahr nach Großmamas Tod musste mein Vater einsehen, dass er von dem ererbten Kapital seine Familie auf Dauer nicht würde ernähren können: Auch seine Versuche, sich als Handwerker zu etablieren, schlugen fehl.

»Wir müssen das Haus verkaufen«, verkündete er eines Abends.

»Und wo sollen wir dann wohnen?«, wollte meine Mutter wissen.

»Indonesien! «, platzte ich heraus.

Ich konnte mir gut vorstellen, den Rest meines Lebens in einem warmen Land auf Bambusmatten zu sitzen und nichts zu tun, als fröhlich zu sein. Damals war ich elf Jahre alt.

Meine Mutter schüttelte traurig den Kopf und erklärte mir, dass wir als Deutsche nicht ohne weiteres in so einem Land leben könnten.

»Hast du da denn keine Familie?«, fragte ich verwundert. .Deine Mutter war doch Indonesierin!«
Ich erfuhr, dass meine Großmutter mütterlicherseits nach ihrer Eheschließung gezwungen worden war, den Kontakt zu ihrer indonesischen Familie abzubrechen. Mein Großvater hatte schon genügend Probleme damit, als Vertreter der Kolonialmacht eine Eingeborene geheiratet zu haben.
»Warum kommen deine Eltern nie zu uns?«, fragte ich. »Sie leben doch in Holland. Warum fahren wir nie hin?«

Ich rechnete damit, dass meine Mutter mir auf diese Fragen ihr übliches Das verstehst du nicht! entgegnen würde.

Diesmal antwortete sie aber gar nicht, sah nur meinen Vater an und bemerkte: »Vielleicht geht es jetzt. Es ist schließlich beinah ein Vierteljahrhundert her …« 

»Sie haben nie auf deine Briefe geantwortet«, meinte mein Vater und fügte hinzu: »Vielleicht leben sie gar nicht mehr. Oder sie sind umgezogen.«

»Dann wären die Briefe zurückgekommen.«

»Was ist beinah ein Vierteljahrhundert her?«, fragte ich.

»Das verstehst du nicht.«

»Du würdest also gern wieder in Holland leben?«, fragte mein Vater.

»Versuchen könnten wir es.«

»Aber Iris müsste dann da zur Schule gehen.«

»Iris spricht Niederländisch.«

»Indonesien!« drängelte ich. »Da scheint immer die Sonne!«

»Vielleicht ist das gar keine schlechte Idee«, überlegte meine Mutter. »Mama kann für uns ja den Kontakt zu ihrer Familie wiederherstellen. Heute ist es in Holland schließlich kein Makel mehr, indonesische Verwandte zu haben. Im Gegensatz zu … « Sie brach ab.

»…deutschen.«, vervollständigte mein Vater ihre Überlegung grimmig.

»Außerdem braucht man in Indonesien nicht viel zum Leben«, setzte meine Mutter hinzu.
Das gab wohl den Ausschlag.

Innerhalb weniger Tage hatte mein Vater das Haus mitsamt Inhalt verkauft. Unsere persönlichen Sachen wurden eingelagert und mit drei Koffern stiegen wir in den Zug Richtung Amsterdam.

Es wurde eine sehr ungemütliche Reise. Mein Vater sprach kein Wort, sondern verkroch sich hinter der Zeitung. Meine Mutter starrte unablässig aus dem Fenster, trommelte mit den Fingern und gab mir auf meine vielen Fragen keine Antwort.

Die Rebellin von Mykonos – Leseprobe

PAROS

»Sie haben ihn vergiftet!« 

Der Schrei ihrer Mutter klang Mando Mavrojenous noch in den Ohren, als sie über die schmale Gasse an den Schweinen vorbei zum Hafen eilte, um einen Schiffer zu beauftragen, ihre Schwester Irini aus Tinos zu holen. Die Fischer hatten Sturm angekündigt, aber das Meer war noch ruhig, eine bleigraue spiegelglatte Fläche, die am Horizont eins wurde mit einem trostlosen Himmel.

»Beileid, mein Beileid.« Sie hörte die Zurufe, wandte sich aber nicht um. Sie wusste, dass die Nachricht vom Tod ihres Vaters inzwischen das letzte Haus von Parikia erreicht haben musste. Sie hatte schon geschlafen, als die Männer spät in der Nacht ihren Vater ins Haus trugen. Er atmete flach, als sie ihn auf die Bank im Wohnzimmer legten und ihrer Mutter mitteilten, dass sein Kopf während des Essens plötzlich in die Suppe gefallen wäre. Dabei habe er dem Landwein gar nicht so sehr zugesprochen, sagte einer der Männer. Der Schrei ihrer Mutter weckte Mando. Sie stürzte ins Wohnzimmer, sah den Arzt, der sich über ihren Vater beugte, und die Mutter, die, von der Dienerin Vassiliki gestützt, anklagend die Arme gegen fünf Männer ob, die mit aschfahlen Gesichtern neben der Tür standen.

Der Arzt richtete sich auf, blickte Mando in die Augen und schüttelte den Kopf. Wie erstarrt betrachtete Mando den leblosen Körper ihres Vaters. Sie sah im fahlen Schein der Lampen sein Gesicht bleicher werden, fast durchsichtig. Die strengen Falten um Nase und Stirn verschwanden. Mando erschrak vor dem wächsernen Gesicht, das sich in der Stunde des Todes verjüngte. Sie war das jüngste von fünf Kindern, ein Nachkömmling, und der Vater war ihr immer alt vorgekommen, ein gütiger, weiser Mensch, der ihr kaum einen Wunsch abschlagen konnte. Mit dem Vater war ihr Bundesgenosse gestorben.

»Haben sie ihn vergiftet?« Eine magere alte Frau zog Mando am Arme und sah sie aus neugierigen schwarzen Olivenaugen an. »Weil er das Land nicht verkaufen wollte?« 

»Lass mich los!«, rief Mando. »Ich weiß es nicht!«

Plötzlich war sie von Dutzenden von Menschen umringt, die wild auf sie einredeten, an ihr zerrten und ihr den Weg zum Hafen versperrten.

Ich hätte Vassiliki schicken sollen, dachte sie und wusste im selben Augenblick, dass es ihr lieber war, unter freiem Himmel von Menschen bedrängt zu werden, als der grauenvollen Atmosphäre in ihrem Elternhaus ausgesetzt zu sein. Schon in den frühen Morgenstunden waren die Krähen eingefallen – so hatte ihr Vater immer die wehklagenden, schwarz gekleideten Trauerweiber genannt -, hatten die Spiegel mit schwarzen Tüchern verhängt, sich laut schreiend um den langen Tisch geschart, auf dem ihr Vater aufgebahrt lag, und sich dann brüllend, singend oder vor sich hin murmelnd auf dem Fußboden niedergelassen. Mit aufgelösten Haaren warf sich Mandos Mutter Zakarati immer wieder über ihren Mann und schrie: »Wer wird dir jetzt den Kaffee bereiten? Wer wird dir jetzt dein Lieblingslied vorspielen?«
Angewidert hatte Mando ihre Mutter beobachtet. Wann hatte ihre Mutter schon den Kaffee selber zubereitet? Und hatte ihr Vater nicht ihr eigenes Klavierspiel dem der Mutter vorgezogen? Wie unwürdig sie sich benahm, sie, die Mando immer vorwarf, nicht die rechte Haltung und Würde für eine Tochter aus fürstlichem Hause zu bewahren. Wie peinlich war die Zurschaustellung ihrer Trauer! Wie konnte man überhaupt so bald trauern, wenn man doch noch gar nicht recht begriffen hatte, dass Nikolaos Mavrojenous nicht mehr war?

»Lasst sie in Ruhe! Schämt ihr euch denn gar nicht?«

Wie ein Peitschenschlag trieb der Ruf die Menschen auseinander. Dankbar blickte Mando auf und sah einen jungen Mann auf sich zukommen, der ihr entfernt bekannt vorkam.

»Mademoiselle Madon«, sprach er sie auf Französisch an, »welch ein Schlag für Sie! Ich weiß, wie nahe Sie Ihrem Vater gestanden haben.« Er verbeugte sich. »Jakinthos Blakaris aus Hydra« stellte er sich vor. Sein dicht gewelltes, hellbraunes Haar fiel über ihre Hand, als er sie küsste. Seine seltsam hellen Augen, die Mando an das Meer im Morgenlicht erinnerten, begegneten ihren dunkelbraunen. Noch nie hatte sie so lange und schön geschwungene Wimpern bei einem Mann gesehen.

»Als Kinder haben wir miteinander gespielt.«  Er nickte zum Strand hin. »Ich kann mir immer noch nicht vergeben, dass ich Ihnen damals Segeln beigebracht habe.« 

Jetzt wusste sie wieder, wer er war, und die Erinnerung lieg sie unwillkürlich lächeln. Sie sah sich als Elfjährige mit dem nur wenig älteren Jakinthos am Strand. Sein Vater, ein reicher Kaufmann und Reeder, war nach Paros gekommen, um mit ihrem Vater Geschäfte zu machen. Sie hatte Jakinthos zu einem Piratenspiel am Strand eingeladen, aber schon nach wenigen Minuten fand der Reederssohn ein Piratenspiel ohne Schiff langweilig. Sie wateten durch das flache Wasser zu einem kleinen Khaiki, lichteten den Anker, setzten das Segel und nahmen Kurs auf die offene See. Mando stand am Bug, hob die Arme und jubelte. Noch nie war sie sich so frei vorgekommen! Das Glücksgefühl währte nicht lange.
Im Schutz der Bucht von Parikia war von dem starken Meltemiwind nur wenig zu merken gewesen, aber
kaum hatte das Khaiki die Landzunge von Aghios Fokas umschifft, als das Boot bedrohlich zu schwanken begann. Obwohl der Junge ein geübter Segler war, fehlte ihm bald die Kraft, das Boot allein zu steuern. Er brüllte Mando an, ihm zu helfen, und mit vereinten Kräften glückte es ihnen, das Khaiki vor dem Kentern zu bewahren.

Mando stellte sich dabei so geschickt an, dass er ihr später ein natürliches Talent im Umgang mit Booten bescheinigte. Anstatt aber zurück in die sichere Bucht zu segeln, nahmen die Kinder Kurs auf Antiparos. Noch bevor sie die vorgelagerte Insel erreichten, prallten sie gegen einen Felsen im Meer. Das Boot lief schnell voll, aber es sank nicht, da Jakinthos es an einer Klippe festgebunden hatte. Sie wurden erst gegen Abend entdeckt, als sich der Meltemi gelegt hatte und die ersten Fischer wieder ausfuhren.

Als die beiden Kinder in Mandos Elternhaus abgeliefert wurden, erhielt Jakinthos von seinem Vater eine Tracht Prügel und Mando wurde von ihrer Mutter für einen Tag und eine Nacht in eine fensterlose Rumpelkammer gesperrt. Vassiliki, die wusste, wie sehr sich das Mädchen vor der Dunkelheit fürchtete, hatte ihr heimlich eine Öllampe zugesteckt. Als deren Schein auf jenen grünen Kasten fiel, den sie als kleines Kind einmal heimlich geöffnet hatte, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sie würde den Inhalt dieses Kastens nie vergessen.

»Wohin kann ich Sie begleiten? «fragte Jakinthos jetzt.

»Ich brauche ein Boot«, erklärte Mando und reichte Jakinthos ein Beutelchen. »Bitte finden Sie einen Fischer, der meine Schwester und ihren Mann aus Tinos holt.«

Jakinthos nahm das Beutelchen nicht. Er schüttelte den Kopf und wies auf den Himmel, über den inzwischen erste Wolkenfetzen jagten. »Kein Fischer wird jetzt sein Khaiki aufs Spiel setzen«, sagte er. »Es kommt ein Sturm auf.« 

Wie zur Bestätigung blähte ein Windstoß Mandos Rock auf und enthüllte ein Unterkleid aus Brüssler Spitze.

»Das ist mir egal«, sagte sie störrisch.

»Mir auch«, sagte er und nahm wieder ihren Arm. »Mein Schiff ist stabiler, ich werde Ihre Schwester holen.«

»Dann komme ich mit.« 

Er schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht noch einmal mit Ihnen Schiffbruch erleiden.«

»So dumm habe ich mich doch damals gar nicht angestellt.«

»Das stimmt.«

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