Prolog

oder

Der Anfang vom Ende

Der Dezembernebel hat die Grenze zwischen Deutschland und Belgien verwischt. Dennoch kann ich in der diffusen Beleuchtung vor der Einkehr drei fremde Fahrzeuge ausmachen. Ich widerstehe der Versuchung, mich mit dem geliehenen Allradmonster an diesem frühen Abend meines freien Tages danebenzustellen. Was mir sehr schwer fällt. Nicht, weil ich nachsehen will, ob Gudrun, David und Regine tatsächlich drei Wagenladungen voller Gäste bedienen, was bei solch garstigem Wetter zu so früher Stunde gar nicht schlecht wäre, sondern weil ich ganz gern die Stimmung zwischen ihnen peilen würde. Die war in den vergangenen Wochen nämlich ziemlich angespannt. Irgendetwas ist zwischen diesem Trio vorgefallen, das mehr als zwei Jahre lang reibungslos und freundschaftlich mit mir in meinem Laden zusammengearbeitet hat.

Nicht, dass plötzlich Streit ausgebrochen wäre, ganz im Gegenteil. Man geht ausgesucht höflich miteinander um, ein sehr bedenkliches Zeichen. Die üblichen Sticheleien bleiben aus. Ich vernehme keine dem Stress geschuldeten Bissigkeiten mehr, niemand knallt dem anderen irgendetwas hin oder vor, keiner tobt in der Küche, nicht einmal über Gäste wird gelästert, und alle tischen kommentarlos auf, was ich komponiere. Gerade das beunruhigt mich außerordentlich. Also ließ ich bei der letzten Menübesprechung einen Versuchsballon steigen und wurde sehr nachdenklich, als nicht ein Einziger Zeter und Mordio schrie. Ich hatte vorgeschlagen, unser – man beachte das beschwörende Gemeinschaftswort – Formenkünstler David solle ein Stück Schweinefleisch in Form eines erlegten Mannes mit Hut als Jägerschnitzel zurechtschnippeln, das man hübsch angerichtet mit Pilz-Ketchupsoße und einem Karottengewehr an Petersilienmoos servieren könne.

David hat deutsch-englisch herumgestottert und Gudrun mir allen Ernstes erläutert, dass die Fasern des Fleisches keine Möglichkeiten zu solch künstlerischer Entfaltung böten. Regine merkte entschuldigend an, wenn ein totes Tier auf dem Teller wie ein toter Mensch aussähe, würde niemand einen Bissen runterkriegen, und dann müssten wir alles wegwerfen, was doch unserer Philosophie der Bewahrung entgegenstünde. Das letzte Fünkchen Humor ist wie weggefegt, und das Lächeln meiner Bedienung so künstlich wie überall dort, wo ich nicht sein mag.

Alarmstufe Rot also. Was nur hat mein Dreierteam so aus der Fassung gebracht? Es gelingt mir nicht einmal, von der treuen Gudrun, die ansonsten nie etwas für sich behalten kann, ins Vertrauen gezogen zu werden. „Alles okay“, antwortet sie ständig; ein deutlicher Hinweis, dass überhaupt nichts okay ist. Meine Versuche, das vermutlich finstere Geheimnis dieser angespannten Freundlichkeit zu lüften, prallen an einer Wand des Entgegenkommens ab.

Die Atmosphäre in meinem kleinen Eifeler Gasthof an der Grenze zu Belgien erinnert mich an das Berlin, in das ich hineingeboren worden bin: Es herrscht kalter Krieg, und zwischen den Menschen ist eine Mauer errichtet worden. Jeder geht seinen alltäglichen Verrichtungen nach, aber keiner scheint sich in seiner Haut wohl und sicher zu fühlen. Man belauert sich gegenseitig; fragt sich, ob man einfach abhauen kann oder ob der andere einen etwa im Stich lassen wird, weil er nicht auf neue Rosinenbomber vertrauen mag, die, wie man ja heute weiß, auch Napalm abwerfen könnten. Aber immerhin ist der Ami noch da, nämlich David. Der wird schon nicht zulassen, dass das Böse das neu Zusammengewachsene entzweit; er ist das Bindeglied zwischen den beiden Frauen, was eine vielleicht unglückliche, aber dadurch nicht weniger zutreffende Formulierung ist.

Da in meiner Gegenwart nichts ausgesprochen wird, bastele ich mir eine eigene Erklärung zurecht: David erwägt die Flucht aus einem Eifeler Leben, das er sich anfangs wohl angenehmer vorgestellt hat, Regine neidet ihm diese Freiheit und hat vielleicht gar Ansprüche angemeldet, während sich Gudrun vermeintlich behaglich eingerichtet hat, die Bedürfnisse der beiden anderen ignoriert und betet, dass sich bloß nichts ändern möge.

Mit Engelszungen habe ich vor zwei Jahren auf die Drei eingesäuselt, um ihnen das Zusammenziehen auszureden. Es schaffe doch nur Unfrieden, Berufliches und Privates derart zu vermischen, hatte ich gesagt und musste mir dann gefallen lassen, ausgelacht zu werden. Was sie bei mir verdienten, reichte selbst in diesem abgelegenen kostengünstigen Teil der Schnee-Eifel, kurz Schneifel genannt, nicht für eigene Wohnungen. Warum sollte man sich den Kopf über ein anderes Dach machen, wenn man ein geräumiges leer stehendes Haus zur Verfügung habe – zugegeben, ein Haus mit einer sehr bösen Geschichte. Aber Gudrun ist darin aufgewachsen und ihr Lebensgefährte David hat es geerbt. Regine, die Mutter seines Sohnes, der gerade in den USA das Studium der Tiermedizin aufgenommen hat – oder aufgeholt, wie sie als Eifelerin sagt, kann darin auch noch ihren neuen Freund unterbringen; falls sich dieser je dazu aufraffen könnte, die Wohngemeinschaft mit seiner resoluten älteren Schwester Frieda in Buchet aufzugeben. Die im Übrigen darin auch noch Platz finden könnte, aber dann bestimmt das Kommando übernehmen würde. Schwer vorstellbar, dass sich Gudrun sagen lassen würde, wann die Fenster geputzt werden sollten.

Das Haus sei groß genug, um sich darin aus dem Weg gehen zu können, hatte David gesagt, als sie noch zu dritt waren. Und Regine hatte darauf hingewiesen, dass sie nur so ihr Geld zusammenhalten könnten. Unvorsichtigkeit bei privaten Ausgaben kann zu Mord und Totschlag führen. Das haben wir alle vor zwei Jahren hautnah miterlebt, vor allem Hein und Jupp. Die beiden sind erst heute Mittag von ihrem langen Mykonos-Aufenthalt zurückgekehrt und werden über den allgemeinen Stimmungsumschwung bestimmt genauso erschrocken sein.

Womöglich haben sie den sogar schon mitbekommen, als sie heute Mittag vor der Einkehr Heins Rote Zora abgeholt haben. Der Sportwagen, den sie mir während ihres Urlaubs wegen der Unzuverlässigkeit meines eigenen Uraltgefährts zur Verfügung gestellt haben, eignet sich allerdings nicht zum Transport von Weinkartons aus Cochem. Deshalb war ich zwar durchaus dankbar, als mir Karl-Heinz Jenniges gestern das Ungetüm zum mehrtägigen Probefahren vor die Tür gestellt hat, aber ich sagte ihm gleich, dass ich dieses Angeberauto nie im Leben kaufen würde. Karl-Heinz blieb unbeeindruckt. Vierradantrieb brauche man in diesem Teil der Eifel nicht zum Angeben, beteuerte er, sondern zum Durchkommen. Ich würde schon sehen. Für die nächsten Tage seien schließlich heftige Schneefälle angekündigt. Er könne es nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren, meinem dem Tod geweihten alten Auto mit ständig neuen Ersatzteilen künstlich das Leben zu verlängern.

Zugegeben, in diesem Wagen ist die Fahrt nach Cochem so komfortabel gewesen, dass ich meinen Plan, dort zu übernachten, spontan über den Haufen geworfen habe. Auch weil Marcel nicht mitgekommen und Herbert in seinem Hotel mit einer Hochzeitsfeier zu beschäftigt gewesen ist, um Zeit für ein Schwätzchen zu haben. Ich lenkte also gleich nach meiner Einkaufstour das Monster wieder heimwärts.

Und biege jetzt links von der B 265 auf belgisches Hoheitsgebiet ein. Vor meinem alten Bruchsteinhaus stelle ich den Motor ab; immer noch unschlüssig, ob ich nicht doch die Bundesstraße überqueren und in Deutschland nach dem Rechten sehen sollte.

Dann fällt mir wieder ein, was mir Marcel gestern gesagt hat, als ich Zweifel äußerte, ob ich mir angesichts des unerfreulichen Betriebsklimas heute wirklich freinehmen sollte: „Du musst mal lernen, nicht immer alles kontrollieren zu wollen.“

Er hat recht. Den Wein aus Cochem kann ich auch morgen im Restaurant abladen; er braucht nach der langen Fahrt vermutlich genauso viel Ruhe wie Linus Auslauf. Der schwarze Riesenhund beginnt schon ungeduldig zu bellen. Während der ganzen Fahrt hat der Labrador mit den zusätzlichen Staffordshireterrier-Genen höchstens fröhlich gefiept, weil er neben mir sitzen durfte, womit ich fünfzig Euro Bußgeld und drei Punkte in der Verkehrssünderkartei Flensburg riskiert habe, dafür aber im Kofferraum mehr Weinkartons unterbringen und Linus beglücken konnte.

Während ich für den Privatgebrauch eine Flasche aus einem Karton ziehe, hebt der Hund kurz das Bein an meiner neu eingepflanzten Birke. Dann rennt er mir voraus, stößt mit der Schnauze die Tür auf und verschwindet im Haus. Ich schicke einen wütenden Blick über die Straße. Wer hat da wieder einmal nicht abgeschlossen? Und schlimmer noch, die Tür nicht einmal richtig zugezogen! Das ist ja wohl das Mindeste, was ich verlangen kann, wenn jemand in meiner Abwesenheit mein Haus betritt! Oder sollte der Ofenbauer doch gekommen sein und am Kamin arbeiten? Aber wo hat er sein Auto gelassen? Außerdem müsste dann im Haus Licht brennen.

Laut bellend stürmt Linus wieder hinaus. Er stößt mich fast um, als er wie vom Teufel gejagt über die Bundesstraße zur Einkehr hetzt. Was ist mit dem Tier los? Seit wann stürzt es sich nach einer Fahrt des Darbens nicht als Erstes auf die in der Küche bereitstehenden Leckerlis?

Noch beschleicht mich keine böse Ahnung. Die kommt erst auf, als ich sehe, dass die Wohnzimmertür sperrangelweit offensteht. Wegen der staubigen kleinen Baustelle halte ich sie jetzt immer verschlossen.

Ungehalten knipse ich das Licht an.

Schock überwältigt mich. Die Flasche rutscht mir aus der Hand und schlägt polternd auf die Holzdielen auf. Ich sinke ebenfalls zu Boden. Meine zitternden Knie können den Doppelzentner meines Leibes nicht mehr tragen. Ich versuche, mich aufzurichten, schaffe es aber nur auf alle viere, recke den Kopf weit vor und schnappe nach Luft.

Diese Schuhe, denke ich nur, warum müssen es ausgerechnet diese Schuhe sein.

Ich kann meinen Blick nicht von diesen Schuhen lösen. Sie lugen unter meiner großen weißen Mohairdecke hervor. Diese ist um einen menschlichen Körper gewickelt, mit Paketband fest verklebt und am Kopfende blutrot eingefärbt. Darunter gibt es kein Leben mehr.

Das tote Bündel liegt transportbereit vor dem Loch in der Wand. Da, wo mein Kamin hinkommen soll, da, wo wir vor vielen Wochen einen grausigen Fund gemacht, die Überreste eines Menschen entdeckt haben, der vor über einem halben Jahrhundert nach seiner Ermordung dort eingemauert worden ist.

Ich starre auf die Schuhe. Die hat kein fremder Unbekannter getragen. Einer von uns ist ermordet worden, einer aus meinem engsten Kreis. Ich kenne diese Schuhe.

Wie auch die Stimme aus dem Flur, die durch die Stille des Hauses peitscht: „Katja! Nicht in Cochem? Was machst du denn schon hier?“

Ich will schreien, aber ich bringe keinen Ton hervor.