(früher: „Die Frau, die nichts tut“)

HOLLAND

Ausgerechnet Finnland! Warum hatte die Freundin meiner Mutter keinen Indonesier geheiratet? Oder einen Griechen?

Als ich von der Reling der Finnhansa über die endlos graue Fläche der Ostsee blickte, konnte ich mir Finnland mühelos als ein ständig von Schnee und Eis überzogenes Land vorstellen. Bei strahlendem Spätsommerwetter hatten wir Lübeck verlassen. Aber binnen weniger Stunden stand ich schon in dicker Winterjacke auf Deck und fuhr der kalten Jahreszeit entgegen.

Nein, ein Grieche hätte nichts genutzt, schließlich gab es in seinem Land nur wenig Wald. Wenig Wald, wenig Holz, also wenig Arbeit für meinen Vater. Wenn man sein Herumhobeln überhaupt als Arbeit bezeichnen konnte. Seine Mutter hatte für die künstlerischen Ambitionen ihres Sohnes nur ein Wort gekannt: erschütternd. Nicht etwa, dass seine Werke die Welt oder den Betrachter erschüttert hätten, nein, erschütternd war die Tatsache, dass Wilhelm Meander mit der Bildhauerei seinen Lebensunterhalt bestreiten wollte.

Vieles hatte Großmama Meander erschüttert. Zum Beispiel, dass mein Vater eine holländische Halbindonesierin geheiratet hatte. Am meisten aber hatte sie seine Weigerung erschüttert, die Tradition des Hauses Meander fortzusetzen und nach Gründung der Bundeswehr wieder Offizier zu werden. Wenn mein Vater entgegnete, er hätte sich in den Jahren bei der Wehrmacht geschämt, eine deutsche Uniform zu tragen, legte meine Großmutter zur Strafe eine ihrer Platten mit Marschmusik auf. Als Reaktion darauf stellte mein Vater in der angrenzenden Werkstatt die Kreissäge an. Ich genoss den Höllenlärm, weil ich dann aus voller Kehle schreien konnte. Das trug mir zwar Prügel von der Großmutter ein, aber dann kam der schönste Teil des Tages. Meine zierliche Mutter, die fast nie den Mund aufmachte, stürzte ins Zimmer und entriss mich der Großmutter. Sie drohte ihr, sie umzubringen, wenn sie noch einmal Hand an mich legte, und nahm mich mit in ihr Heiligtum. Während wir die steile Treppe zum Dachboden hinaufkletterten, hörten wir die Großmutter noch toben: »Die Halbwilde muss raus!«

Dass sie damit meine Mutter meinte, begriff ich erst, als ich älter war und erfuhr, dass meine Mutter in einem weit entfernten Land geboren war. In einem Land, wo immer die Sonne schien, wo niemand laut wurde und alle Menschen fröhlich waren.

Im Heiligtum meiner Mutter saßen wir unter der Dachschräge im Schneidersitz auf Bambusmatten. Meine Mutter zündete ein Räucherstäbchen an, wickelte mich in bunte Stoffe und zog aus einem zerbeulten Koffer kleine Stofftütchen mit wohlriechenden Gewürzen. Manchmal hängte sie auch ein Laken über eine Leine, richtete einen Lichtstrahl darauf und kroch dahinter. Mit ihren Fingern und kleinen Gegenständen erzählte sie mir dann eine Schattenspielgeschichte. Sie hatte meinen Vater einmal gebeten, ihr richtige Wajang-Puppen zu machen, aber er meinte, ihm würden nur großformatige Werke liegen. Um die mächtigen Baumstämme, aus denen er bizarre Formen gestaltete, in die Werkstatt zu wuchten, hatte er sogar ein riesiges Stück Außenmauer entfernt und ein Garagentor eingesetzt.

Immer, wenn wir allein waren, sprach meine Mutter niederländisch mit mir und ich begriff es als Auszeichnung, mich mit ihr in einer Sprache zu unterhalten, die meine Großmutter und mein Vater weder verstanden noch billigten. Sie hatten ihr sogar ausdrücklich verboten, mit mir in ihrer Muttersprache – oder in ihrem Fall Vatersprache – zu reden, und zwar mit der Begründung, dass dies meinem Deutsch abträglich sei. Ich könnte genauso gut gleich Plattdeutsch lernen. Dies war der einzige Punkt, in dem sich meine sonst immer fügsame Mutter den Autoritäten im Haus widersetzte. Sie sagte mir, sie wolle nicht den gleichen Fehler begehen wie ihre Mutter, deren Mann ihr ebenfalls verboten hätte, in ihrer eigenen Sprache mit ihrer Tochter zu sprechen. Heute bin ich meiner Mutter sehr dankbar, dass ich auf diese Weise fast akzentfrei Niederländisch sprechen gelernt habe.

Da mein Vater mit seinen Bildhauerarbeiten kein Geld verdiente, waren wir von Großmama abhängig. Sie erinnerte uns gern daran.

»Die erste Generation erwirbt es, die zweite vermehrt es, und du, die dritte, verschleuderst es!«, warf sie meinem Vater eines Abends beim Essen vor und wies auf das Fischfleisch, das noch zwischen den Gräten steckte, die mein Vater auf den Resteteller gelegt hatte. Er würde sich ja gern irgendwo als ungelernter Handwerker anstellen lassen, meinte mein Vater, aber diese Worte erschütterten Großmama so sehr, dass ihr mächtiger Leib zu beben begann.

»Nur über meine Leiche! Ich werde doch nicht zulassen, dass ein Sohn von mir niedere Arbeiten verrichtet. Noch dazu ein Offizier!« Sie beförderte das Grätenstück auf ihren Teller und harkte mit der Gabel die Fischfasern heraus. Erlernt habe er aber nur das Kriegshandwerk, entgegnete mein Vater, was ihm ein donnerndes »Eben!« und die Aufforderung einbrachte, sich augenblicklich bei der Bundeswehr zu melden.
Dafür wäre er inzwischen viel zu alt, erwiderte mein Vater.

»Du Verschwender!«, rief Großmama, und um ihm deutlich zu machen, dass sie damit nicht nur sein vergeudetes Leben meinte, zeigte sie ihm triumphierend die Fischausbeute auf der Gabel, bevor sie diese zum Mund führte und den Bissen schluckte.

Dann geschah alles ganz schnell. Großmama lief rot an, hustete und würgte. Aus herausquellenden Augen starrte sie uns erschüttert an, klopfte sich mit dem Zeigefinger an die Kehle, machte noch ein paar entsetzliche Geräusche und starb. Alle drei blieben wir wie gelähmt am Tisch sitzen. Das Normale wäre wohl gewesen, dass wir irgendwas getan hätten.

Aber meine Großmutter hatte, von Erziehungsprügeln abgesehen, nie auch nur den geringsten körperlichen Kontakt geduldet. Selbst in einer solch extremen Situation war es undenkbar, ihr wild auf den Rücken zu klopfen, ihr ein Glas Wasser an den Mund zu halten, ihr von hinten den Brustkorb zuzudrücken oder gar zu versuchen, sie auf den Kopf zu stellen.

»Und jetzt?«, fragte meine Mutter verzagt, nachdem Großmama mit einem letzten Donnern vom Stuhl fiel.

Ein Jahr nach Großmamas Tod musste mein Vater einsehen, dass er von dem ererbten Kapital seine Familie auf Dauer nicht würde ernähren können: Auch seine Versuche, sich als Handwerker zu etablieren, schlugen fehl.

»Wir müssen das Haus verkaufen«, verkündete er eines Abends.

»Und wo sollen wir dann wohnen?«, wollte meine Mutter wissen.

»Indonesien! «, platzte ich heraus.

Ich konnte mir gut vorstellen, den Rest meines Lebens in einem warmen Land auf Bambusmatten zu sitzen und nichts zu tun, als fröhlich zu sein. Damals war ich elf Jahre alt.

Meine Mutter schüttelte traurig den Kopf und erklärte mir, dass wir als Deutsche nicht ohne weiteres in so einem Land leben könnten.

»Hast du da denn keine Familie?«, fragte ich verwundert. .Deine Mutter war doch Indonesierin!«
Ich erfuhr, dass meine Großmutter mütterlicherseits nach ihrer Eheschließung gezwungen worden war, den Kontakt zu ihrer indonesischen Familie abzubrechen. Mein Großvater hatte schon genügend Probleme damit, als Vertreter der Kolonialmacht eine Eingeborene geheiratet zu haben.
»Warum kommen deine Eltern nie zu uns?«, fragte ich. »Sie leben doch in Holland. Warum fahren wir nie hin?«

Ich rechnete damit, dass meine Mutter mir auf diese Fragen ihr übliches Das verstehst du nicht! entgegnen würde.

Diesmal antwortete sie aber gar nicht, sah nur meinen Vater an und bemerkte: »Vielleicht geht es jetzt. Es ist schließlich beinah ein Vierteljahrhundert her …« 

»Sie haben nie auf deine Briefe geantwortet«, meinte mein Vater und fügte hinzu: »Vielleicht leben sie gar nicht mehr. Oder sie sind umgezogen.«

»Dann wären die Briefe zurückgekommen.«

»Was ist beinah ein Vierteljahrhundert her?«, fragte ich.

»Das verstehst du nicht.«

»Du würdest also gern wieder in Holland leben?«, fragte mein Vater.

»Versuchen könnten wir es.«

»Aber Iris müsste dann da zur Schule gehen.«

»Iris spricht Niederländisch.«

»Indonesien!« drängelte ich. »Da scheint immer die Sonne!«

»Vielleicht ist das gar keine schlechte Idee«, überlegte meine Mutter. »Mama kann für uns ja den Kontakt zu ihrer Familie wiederherstellen. Heute ist es in Holland schließlich kein Makel mehr, indonesische Verwandte zu haben. Im Gegensatz zu … « Sie brach ab.

»…deutschen.«, vervollständigte mein Vater ihre Überlegung grimmig.

»Außerdem braucht man in Indonesien nicht viel zum Leben«, setzte meine Mutter hinzu.
Das gab wohl den Ausschlag.

Innerhalb weniger Tage hatte mein Vater das Haus mitsamt Inhalt verkauft. Unsere persönlichen Sachen wurden eingelagert und mit drei Koffern stiegen wir in den Zug Richtung Amsterdam.

Es wurde eine sehr ungemütliche Reise. Mein Vater sprach kein Wort, sondern verkroch sich hinter der Zeitung. Meine Mutter starrte unablässig aus dem Fenster, trommelte mit den Fingern und gab mir auf meine vielen Fragen keine Antwort.