Die vertauschte Braut

Armut, Schmutz und Elend waren Vater Gregorius nicht fremd. Aber noch nie hatten seine Augen solch ein Geschöpf gesehen, wie jenes, das an diesem warmen Spätsommerabend des Jahres 741 die Holzpforte zum Klostergarten der Abtei aufgestoßen hatte.

Es schien weder Mann noch Frau zu sein, war vielleicht überhaupt nicht menschlich. Als sei es den Tiefen der Erde entstiegen, von Gluten gegerbt, von Kohle gebeizt, durch Schlamm gezogen, von Wurzeln zerkratzt und Flechten umschlungen, stand es stumm in der Toröffnung. Wirre Zotteln in allen Herbstfarben verdeckten fast gänzlich die Fläche, wo sich bei Menschen das Gesicht befindet, und unter dem schmutzsteifen Überwurf staken statt der Füße zwei riesige unförmige Klumpen wie aus reinem Erdreich hervor.

„Jesus Christus, Allmächtiger!“ entfuhr es dem Abt, den das leise Quietschen der Pforte aus seinem Gespräch mit der Klosterstifterin am Kräuterbeet herausgerissen hatte.

„Darunter verbergen sich bestimmt keine Hufe, mein lieber Freund“, sagte die hagere Frau, dem Blick des Abtes folgend. Sie trat auf das Wesen zu, wechselte vom Lateinischen ins Deutsche über und fragte: „Wie heißt du, mein Kind, woher kommst du und wohin des Weges?“

„Gestatte mir zunächst die Frage, edle Frau, ob dieses Anwesen die Abtei zu Prüm beherbergt“, kam eine Replik in wohlgesetztem Latein. Die Heiserkeit der Stimme täuschte nicht darüber hinweg, dass die Kreatur zweifelsfrei weiblichen Geschlechts, von vornehmer Abstammung und noch dazu ziemlich jung war.

Höflich bestätigte die Klosterstifterin Bertrada von der Burg Mürlenbach, die von allen nur Frau Berta genannt wurde, dass sich dieses so verhalte und bat die Fremde noch einmal um ihren Namen. Das Wesen teilte mit zwei verschmutzten Händen den struppigen Gesichtsvorhang und blickte aus hellgrünen Augen, die sich in dem rußigen Gesicht seltsam klar ausnahmen, an der Klosterstifterin und dem Abt vorbei in den blühenden Garten.

Ihrer Antwort: „Flora“ folgte ein Seufzer. Der Abt und die Klosterstifterin sprachen gleichzeitig:
„Was führt dich hierher?“

„Wer ist dein Vater?“

Der langgezogene Seufzer ging in ein fast unverständliches Murmeln über: „Hunger.“

Frau Berta sah den Abt an. Hatte er die Fremde vielleicht verstanden? Er hob die Schultern. „Ungarn?“ brummte er fragend. Die Klosterstifterin trat einen Schritt näher, legte die Hand ans Ohr und fragte: „Heißt du Flora von Ungarn?“

Die Fremde nickte und sank ohne ein weiteres Wort zu Boden. Vater Gregorius streckte spontan die Arme aus, ließ sie aber dann hilflos zur Seite fallen und sandte der älteren Frau einen verzweifelten Blick zu. Die hatte schon einen jungen Mönch herbeigewinkt, der, einen Holzkarren mit Erde hinter sich her ziehend, neugierig näher gekommen war.

„Du kannst hier ab- und wieder aufladen“, erklärte Frau Berta und deutete auf die reglose Figur am Boden. „Und da ich sie nicht allein in den Karren schaffen kann, wirst du mir helfen.“

„Aber …“, begann der Abt.

„Ich weiß, ehrwürdiger Vater, den Körper einer Frau dürft ihr nicht berühren, aber der Herrgott hat meines Wissens nach nichts von Lumpen gesagt. Sofern er überhaupt etwas von eurem Umgang mit Frauen gesagt hat …“ Sie bückte sich und hob den Umhang leicht an, der die Gestalt jetzt gänzlich bedeckte, und sagte zu dem jungen Mönch: „Unter Schichten verkrusteten Tuchs mag sich irgendwo der Fuß verbergen, aber vertrau mir, er ist deinem Zugriff entzogen, und du wirst der Sünde nicht näher sein, wenn du mir hilfst, diesen Haufen verfaulter Lappen zu bewegen.“ Sonst erzähle ich dem Väterchen Abt noch, weshalb ihr abends so gern am Flussufer lustwandelt, dachte sie grimmig.

Erst vor einer Woche war wieder eine der angelsächsischen Frauen bei ihr erschienen und hatte um Arbeit im Mürlenbacher Längshaus nachgesucht, ja, sie angebettelt, gegen Speise und Unterkunft dort Altartuch oder Kleidung anfertigen zu dürfen. Spinnen, nähen, färben, weben, sticken, waschen – alles sei ihr lieber, als für Brot, Wein, Bier oder ein paar Münzen weiterhin den Mönchen am Flussufer zu Willen zu sein. Warum sie denn nicht in ihre Heimat zurückkehre, hatte die Klosterstifterin gefragt. Die Frau aus Albion hatte ihr Gesicht verhüllt. Sie könne ihrer Familie nie wieder unter die Augen treten. Als ehrbare Pilgerin habe sie ihr Vaterland verlassen, als Hure werde sie in der Fremde sterben. Frau Berta hatte der Frau, die mit Sicherheit nicht zum Frondienst geboren war, einen Platz im Färbereiraum ihres Mürlenbacher Genitiums, der Tuchmacherei, zugewiesen.

So geht das nicht weiter! Ich muss Erzbischof Bonifatius bei seinem nächsten Besuch unbedingt die Not der Frauen aus seiner Heimat schildern. Nein, ich darf gar nicht daran denken, dass er vielleicht sogar mitschuldig an ihrem Los ist. Warum schwärmt er auch so laut und so heftig von Rom! Das führt doch diese unglückseligen Frauen erst auf den Weg ins Verderben! Wie einfältig zu glauben, einer allein reisenden Frau genüge der Schutz des Herrn, wenn ihr unterwegs so viele Männer begegnen! Diesen Pilgerreisen Einhalt zu gebieten wird dem guten Bonifatius wohl weitaus schwerer fallen, als vor staunenden Heiden eine heilige Eiche zu fällen! Eine Angelsächsin ist diese Flora von Ungarn jedenfalls nicht, dafür ist ihr Lateinisch zu wohlklingend. Und für eine Rompilgerin hat sie sich zu weit nach Norden verirrt und ist viel zu vornehmer Herkunft. Solch gepflegtes Latein spricht man nur in den feinsten Familien. In meiner zum Beispiel. Außerdem würde keine edle Frau ohne erfahrenen Begleitschutz nach Rom ziehen. Allerdings ist mir auch noch keine edle Frau begegnet, die derart abscheulich zugerichtet ist und so erbärmlich stinkt. Daneben ist ja meine Pferdescheune nach dem Bierfest der Knechte ein Hort des Wohlgeruchs! Aber ich finde schon noch heraus, was oder wer sich unter diesen Hüllen versteckt!
   
„Los!“ befahl Frau Berta ungeduldig und griff selbst dorthin, wo sie die Schultern der weiblichen Gestalt vermutete. Der Mönch kippte die Erde aus, fahndete mit abgewandtem Gesicht nach den Füßen und half, die bewusstlose Frau in den Karren zu heben.

Vater Gregorius hatte sich inzwischen ohne ein weiteres Wort entfernt. Er mochte zwar der Abt des Klosters sein, aber wenn die Abteistifterin in Prüm weilte, wusste selbst der ergebenste Mönch, wer dann tatsächlich den Ton angab. Was sehr ärgerlich war, da Frau Berta vor zwanzig Jahren ihren Anteil von Prüm und Rommersheim ja eigentlich der Abtei gestiftet hatte. Gut, die Abgaben wurden jetzt ans Kloster entrichtet, aber es lag nun mal nicht in Frau Bertas Natur, sich von dem einmal Geschenkten auch tatsächlich zu trennen. Wieder einmal ärgerte sich Vater Gregorius, dass sein Vorgänger ihr ein Mitspracherecht bei allen Entscheidungen zugesagt hatte, und dass er selbst einfach zu schwach war, sich dieser resoluten Edelfrau zu widersetzen. Es war außerordentlich demütigend, dass er ihre Anordnungen widerspruchslos entgegen nahm und auch noch befolgte! Immer wieder hatte er den Federkiel angespitzt, um sich bei der höchsten Stelle, nämlich beim Hausmeier persönlich, über die Einmischung dieser überaus weltlichen Edelfrau zu beschweren, hatte den Brief aber dann doch nicht geschrieben.

Frau Bertas Güter reichten von den kahlen Hängen des Eifelgaus bis an die üppig begrünten Moselberge. Eine Witwe mit so viel Grundbesitz verfügte über erheblich mehr Macht als der arme Abt eines eher unbedeutenden Klosters. Warum hatte sie nicht wie andere vornehme Witwen irgendwo ein Frauenkloster gegründet? Da hätte sie sich selbst als Äbtissin einsetzen und die Novizinnen tyrannisieren können! Vater Gregorius stieß einen tiefen Seufzer aus, als er die Tür zum kleinen Skriptorium aufstieß. Bonifatius hatte Recht. Es wurde höchste Zeit, dass sich die fränkische Kirche endlich der römischen anschloss! Schließlich hatten Frauen in einem römischen Männerkloster nichts zu sagen. Mulier taceat in ecclesia. 

Nicht zum ersten Mal bedauerte Vater Gregorius, dass der Arm des Papstes immer noch so kurz war. Aber vielleicht würde sich das mit Hilfe des Bonifatius bald ändern. Der sah in der römischen Kirchenverfassung, in der Unterordnung aller einzelnen Kirchen, also auch der fränkischen, unter Bischöfe, und der Bischöfe wiederum unter den Papst die einzige Rettung vor Verwilderung in Sitte und Lehre der Geistlichen und des Volkes. Bei seinem letzten Besuch hatte er Vater Gregorius gefragt, ob er sich zutraue, in Prüm alle Bischöfe Austriens zu beherbergen. Er erwäge nämlich, hier eine Kirchenversammlung abzuhalten, ein so genanntes Konzil. Eine unerhörte Initiative, hatte Vater Gregorius damals gedacht. Aber als ihm kurz danach zu Ohren kam, dass einer seiner Mönche den Streit mit dem Ehemann einer Halbfreien mit einem wahrhaftigen Schwert ausgetragen hatte, konnte er Bonifatius nur recht geben: Es wurde Zeit, die Kirchenzucht einzuschärfen. An das allnächtliche Treiben am Ufer der Prüm durfte er gar nicht denken. Und Frauen sollten wissen, wo sie hingehörten. In der Bibel war das klar und deutlich formuliert. Jetzt war es an der Zeit, allgemein verbindliche Gesetze zu schaffen.

Frau Berta, die Klosterstifterin, war leicht brüskiert, dass sich der Abt wortlos verabschiedet hatte, doch sie vergaß den Bruch der Etikette schnell. Ihre Gedanken kreisten um die fremde Frau. Aber selbst, wenn sie nicht anderweitig beschäftigt gewesen wäre, hätte sie sich nie vorstellen können, dass Vater Gregorius ihr gegenüber einen Groll hegte. Sie war es gewohnt, dass man auf ihr Wort hörte und nichts in Frage stellte. Schließlich hatte sie dafür gesorgt, dass es den Menschen und den Mönchen in Prüm gut ging. Sie hatte die Rodung und Kultivierung des Bodens überwacht, die Seifensiederei, die Kornmühle, die Netzmacherei, die Weinkelterei und die Bierbrauerei eingerichtet und die kleine Siedlung am Hang erbauen lassen. Nicht nur den Gebeten der Mönche war zu verdanken, dass der Spelt, die Weizensorte, die in der Prümer Kalkmulde gedieh, jeden Mai schon so hoch stand, dass sich ein Hase darin verstecken konnte. 
Frau Bertas Blick streifte das Hospital der Abtei, in dem zwölf arme Männer mit körperlichen Gebrechen untergebracht waren. Bei der Gründung des Klosters hatte sie darauf bestanden, dass die Einkünfte aus ihrem Gut Wesselsdorf den Unterhalt dieser bedauernswerten Kreaturen bezahlen sollten. Diese Männer nahmen den Mönchen mancherlei Arbeit ab: Sie säuberten das Klostergelände, entfernten menschliche und tierische Ausscheidungen, flickten die Palisaden, läuteten die Glocken, pflegten die Kranken und hielten bei Bedarf auch Totenwache. Frau Berta erwartete keine Dankbarkeit für ihre wohltätigen Werke, fand es aber auch nicht zu viel verlangt, dass man ihr dabei keine Steine in den Weg legte.

Jetzt ging sie neben dem Mönch und seiner Fuhre her und schüttelte den Kopf, als er vor dem Eingang zum Hospital anhielt und die Tür mit dem Fuß aufstoßen wollte.

„Diese Lumpen bedecken eine edle Frau“, sagte sie knapp und wies mit einem Nicken zum Gästehaus der Vornehmen.