„Die Marketenderin – mit Napoleon in Russland“
Die Sonne war gerade aufgegangen, als die drei am nächsten Morgen aus der Hütte traten. In ihren Manteltaschen steckten die Reste des Kalbfleischs, und sie hielten sich an den Händen, als sie den Hügel hinunter auf die Brücken zuliefen. Das Gedränge schien noch wilder geworden zu sein als am Tag zuvor. Vor den Augen der drei Gefährten brach mit einem Mal die stärkere Brücke ein. Menschen, Wagen und Pferde versanken in den Fluten.
Die Fuhrwerke am Ufer wendeten und steuerten die andere Brücke an, die zum Übergang der Fußgänger bestimmt war. Menschen und Wagen drängten sich auf dem engen Pfad, Räder brachen und verstopften den Weg. Wütend stürzten sich die Nachfolgenden auf die Verunglückten, rissen sie ohne Erbarmen zur Seite und wurden beim Versuch, die Trümmer aus dem Weg zu räumen, selber von anderen Fahrzeugen überrollt. Pferde und Menschen stürzten übereinander, fürchterliches Geschrei erscholl. Selbst berittenen Gendarmen gelang es nicht, Ordnung zu schaffen.
Entsetzt sah Juliane, wie Menschen von Rädern zerquetscht und von Pferden zertreten wurden, immer mehr Frauen und Kinder in die Fluten stürzten, und der Zug auf der Brücke nicht voranzukommen schien. Sie blickte zu ihren beiden Begleitern, aus deren Gesichtern jegliche Farbe gewichen war.
»Warten wir bis zum Nachmittag!«, hörte sie Johannes brüllen. »Schaut da, die Pioniere richten die andere Brücke wieder her, vielleicht haben wir Glück und können später da rübergehen.«
Als die Brücke nach einigen Stunden wiederhergestellt worden war, zogen die drei, sich immer noch an den Händen haltend, in ihre Nähe, machten aber wieder kehrt, als ihnen klar wurde, dass in dem Gedränge immer noch die größte Gefahr bestand, erdrückt oder totgetreten zu werden.
Aber Kanonendonner und Gewehrsalven hinter ihnen rückten immer näher. Das Armeekorps, das ihnen Rückendeckung geben sollte, war zurückgewichen. Sie würden den Russen in die Hände fallen, wenn sie nicht schleunigst das andere Ufer erreichten, wo sich die dort gelandeten Truppen bereits mit den Russen Gefechte lieferten.
Juliane wandte sich um, sah einen unübersehbaren Tross von französischen Soldaten die Anhöhen hinunterlaufen und schrie: »Wir müssen es jetzt versuchen, die wollen auch noch rüber.«
Zertretene Leichname und gefallene Pferde, die sich in ihren letzten Zuckungen über noch lebende, gestürzte Menschen wälzten, bildeten ein beinahe unübersteigbares Bollwerk am Brückenzugang. Weinend, heulend, fluchend irrten Kinder, Frauen und Männer umher, ihre Gesichter von Schrecken und Verzweiflung gezeichnet.
Ganz in Julianes Nähe schlug eine Granate ein, die eine blutende Masse hinterließ. Als sich der Rauch verzogen hatte, sah Juliane, dass der Frau neben ihr die Füße zerschmettert waren.
Die gestürzte Frau zog ihr vielleicht dreijähriges Kind auf den Schoß, nahm ihr Strumpfband ab und erwürgte damit das Kind, bevor sie beide von den Hufen eines Pferdes zertreten wurden. Gewaltsam drängte Juliane mit den Männern nach vorn. Inzwischen konnte sie Johannes nicht mehr an der Hand halten, sie klammerte sich an seinen Mantelkragen und spürte Matthäus dicht hinter sich. Sie stiegen über zuckende Körper von Menschen und Pferden, berührten den Boden nicht mehr, sondern wurden von der Masse, die nach der Brücke strebte, getragen und geschoben. Endlich erreichten sie die schwankende, geländerlose Brücke.
Juliane sah und fühlte nichts mehr, außer Gerters Mantelkragen, in den sie sich festgekrallt hatte. Jemand zog an ihrem Umhang, sie schüttelte ihn mit aller Kraft ab, hörte einen Schrei und ließ Johannes los, als sie erkannte, dass sie Matthäus ins Wasser gestoßen hatte. Verzweifelt bückte sie sich, versuchte ihm die Hand zu reichen, wurde aber sofort selbst in den eiskalten Fluss gedrückt. Mit den Füßen berührte sie den schlammigen Untergrund, sah Matthäus gegen die Strömung ankämpfen und auf das Ufer deuten, von dem sie gekommen waren. Sie verstand: Lieber von den Russen gefangen genommen werden als im Fluss sterben.
Eine Kanonenkugel traf die Brücke, Menschen, Gerät und Holzbrocken stürzten ins Wasser, sie sah, wie Matthäus, von einem Balken getroffen, versank, und kämpfte sich zu der Stelle durch, wo er untergegangen war. Es gelang ihr, seinen Körper zu packen, und so schleppte sie ihn mit sich ans Ufer. Weit von der Brücke entfernt, stieg sie zitternd aus dem Wasser, Matthäus hinter sich herziehend.
Sie setzte sich ans Ufer, bettete den Kopf ihres Mannes in ihren Schoß und küsste ihn auf die Lippen. Seine Augen öffneten sich halb, aber sie sah das Leben langsam aus ihnen entweichen.
»Matthäus«, sagte sie eilig und legte seine rechte Hand auf ihren Bauch, »du wirst Vater.« Ein schwaches Lächeln erhellte sein Gesicht, und sie sah seine Lippen Worte formen. Sie beugte ihr Ohr zu seinem Mund und hörte: »Julischka … er soll Jakob heißen.«
Als sie wenig später von zwei Russen hart am Arm gepackt wurde, war Matthäus tot.
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