Den unzähligen Legenden und Geschichten, die sich um Karl den Großen und seine Pfalzkapelle ranken, habe ich mit viel Vergnügen eine weitere hinzugefügt; eine Mär mit einem wahren Kernbau, der auch zwölfhundert Jahre später noch in Aachen zu besichtigen ist. Und mit einer These, die man als höchst abenteuerlich abtun, aber historisch nicht grundsätzlich widerlegen kann: Warum sollte Harun al Raschid, Kalif von Bagdad, dem Frankenherrscher neben vielen anderen großzügigen Gaben nicht auch einen Baumeister geschickt haben?
Karl hätte das Geschenk bestimmt dankend angenommen und es sofort zur streng geheimen Verschlusssache erklärt. Sein Biograf Einhard hätte sich gehütet, der Nachwelt etwas kundzutun, was überhaupt nicht in sein Gesamtkonzept des großen christlichen Kaisers gepasst hätte. Am Bau der Pfalzkapelle soll Einhard selbst ja auch maßgeblich beteiligt gewesen sein, aber den Namen des Baumeisters erwähnt er in seiner Schrift Vita Karoli Magni nur ganz am Rande. Nichts steht darin, was diesen ansonsten gänzlich unbekannten Odo von Metz denn nun befähigt haben sollte, das ehrgeizigste Bauprojekt des Frankenkönigs zu verwirklichen. Eines, das seiner Zeit so weit voraus war, dass unter Historikern immer wieder Gerüchte kursierten, es könne gar nicht aus dem fränkischen Frühmittelalter stammen.
Es bleibt ein Geheimnis, wem es damals gelungen ist, diese steinerne Kuppel zu wölben; zu einer Zeit, da diese Kunst selbst in Byzanz schon Jahrhunderte zuvor in Vergessenheit geraten war. Als ich begann, an diesem Roman zu arbeiten, wurden gerade Eichenhölzer aus einem Ringbalken des Oktogons und einem Fundamentbalken dendrochronologisch untersucht. Dabei wurde zweifelsfrei nachgewiesen, dass die Pfalzkapelle tatsächlich auf der Schwelle zum neunten Jahrhundert gebaut worden ist. Nur wem ist diese Meisterleistung zuzuschreiben? Genau da setzt mein Roman an.
Denn wer unter Karls Kuppel die Atmosphäre auf sich einwirken lässt, kommt unweigerlich ins Grübeln. Die arabische Anmutung ist unübersehbar. Als ich an Die Beutefrau, dem zweiten Band meiner Karolinger-Frauen-Trilogie arbeitete, beschlich mich bei jedem Besuch im Aachener Dom so etwas wie ein schlechtes Gewissen, dass ich diesem Eindruck in jenem Buch keinen Raum geben konnte.
Als wir Jahre später wieder unter der Kuppel standen, erinnerte mich mein Mann an dieses Versäumnis und merkte an, mit einem Roman über den Dombau zu Aachen könnte ich wieder in meine historische Lieblingsepoche zurückkehren, jene Zeit wieder auferstehen lassen, in der auch meine Karolinger-Frauen-Trilogie spielt. Nach meinem Ausflug ins Hochmittelalter mit Die Kathedrale der Ketzerin hatte mich nämlich das Heimweh nach dem Frühmittelalter gepackt – aber was hätte ich noch über Karl den Großen schreiben können, das nicht schon längst zwischen zwei Buchdeckeln zu finden ist? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass in all den Jahrhunderten seit der Errichtung der Pfalzkapelle noch nie jemand in einem Roman versucht haben sollte, das Geheimnis um ihren Bau zu lüften. Immerhin ist der Aachener Dom das erste Denkmal in Deutschland überhaupt, das 1978 in die Liste des Welterbes der UNESCO aufgenommen wurde. Und doch fand ich keinen Roman zum Thema. Dafür stapelten sich bald die Sachbücher und Doktorarbeiten über die Marienkapelle in meinem Arbeitszimmer. Hin und wieder entdeckte ich darin einen kleinen Hinweis auf fremde Hilfe beim Bau. Anja Riedeberger schreibt in ihrer Hauptseminararbeit: „Die sichere Beherrschung der Wölbetechnik bei der Kuppel, für die es im Mittelalter bisher keine Bautradition gab, macht deutlich, dass die Pfalzkapelle nicht allein mit einheimischen Bauleuten entstanden sein kann … Auch die kunstvoll gegossenen Bronzetüren des Münsters können nur mit Hilfe von Handwerkern und Künstlern entstanden sein, die diese Fertigkeit ins Frankreich gebracht haben.“ Die Pfalzkapelle erinnere an „eine im Norden gestrandete orientalische Kathedrale“, fand ich in Will Durants Kulturgeschichte der Menschheit, und Besucher des Doms schwärmen im Internet von „maurisch angehauchten Torbögen“. Selbst der heutige Aachener Dombaumeister Helmut Maintz hielt meine Theorie bei Weitem nicht für so abenteuerlich, wie ich befürchtet hatte, als ich mit ihm Kontakt aufnahm.
Im Gegenteil; er fand meine Idee eines aus Bagdad stammenden Baumeisters „interessant“ und durchaus nicht zu verwerfen. Während der Restaurierungsarbeiten am Aachener Dom nahm er sich viel Zeit, meinem Mann und mir den Kernbau zu erklären. Wir lernten unter anderem, wie karolingischer Mörtel hergestellt wurde, welche Bedeutung die Ringanker haben, wie das Fundament dem Sumpf abgetrotzt wurde und wie man die Risse nach dem Erdbeben 803 mit Blei ausgegossen hatte. Helmut Maintz führte uns im eingerüsteten Wüstenturm bis hinauf unter die Kuppel, wo gerade das Mosaik erneuert wurde, und zeigte uns bei einem späteren Besuch auch das noch erhaltene ursprüngliche Teilmosaik am Boden, in dem man ohne sonderlich viel Fantasie den Mann mit dem Turban erkennen kann.
Mehr als zwei Jahre habe ich an diesem Roman gearbeitet. Für kein anderes Buch habe ich mir so viel Zeit gelassen und mit solcher Lust und Begeisterung solche Mengen an Material gesammelt. Ich baute ältere und aktuelle archäologische Entdeckungen ein; war begeistert, als ich erfuhr, dass zwei komplette Skelette, ein männliches und ein weibliches, im Fundament des Zentralbaus gefunden worden waren. Wie auch die merowingischen Ohrringe, die Bronzefibel und ein karolingischer Silberdenar, dessen Prägung darauf hinweist, dass das Fundament nach 794 gegossen worden sein muss.
Ezra kam ins Spiel, weil ich auch in diesem Roman nicht auf eine weibliche Hauptfigur verzichten wollte. Das aber bedeutete, dass ich mich sehr intensiv mit der Rolle der Frau im Islam des frühen Mittelalters auseinandersetzen musste. Auch dazu fand ich reichlich Rat und Lektüre. Ich las den Koran und mit großem Vergnügen noch einmal Tausendundeine Nacht in voller Länge. Drei deutschsprachige Ausgaben standen mir zur Verfügung; ich entschied mich unter anderem wegen der wunderbaren Gedichte für die Übertragung von Enno Littmann (Insel-Verlag).
Ich möchte mich bei all den vielen Menschen bedanken, die mich bei diesem Werk beraten und begleitet haben, ihr wisst, wer ihr seid. Einige möchte ich trotzdem herausheben: Ohne die Hilfe von Dombaumeister Helmut Maintz hätte ich mich nicht an dieses Thema gewagt, ohne die Aufzeichnungen aus der Studienzeit meiner alten Freundin, der Archäologin Dr. Cornelia Nippe, wäre mir das frühmittelalterliche Konstantinopel fremd geblieben, ohne meinen Nachbarn, den Sternengucker Jürgen Lemke, hätte ich nicht gewusst, wann im Mittelalter Vollmond war, ohne Carolin Gilbaya größere Schwierigkeiten mit Ezras Glauben gehabt, ohne die Kunsthistorikerin Dr. Regina Molden manches ausgelassen und ohne Ermutigung und technische Kenntnisse meines Mannes wäre ich nicht auf die Idee gekommen, diesen Roman überhaupt zu schreiben. Ohne Michaels Bereitschaft, so viel Zeit mit Ezra, Lucas und ihrem Kuppelproblem zu verbringen, hätte ich wohl kaum bis zum Schluss durchhalten können.
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