Prolog

Juli 833

Der bewegliche Wall aus Leibern und Pferden versperrte ihr die Sicht auf die Landschaft. Die Männer achteten sorgsam darauf, dass die Gefangene auf dem kleinen Ross nicht aus dem Kreis ausscherte. Sie rissen untereinander derbe Scherze, sprachen aber zu ihr kein Wort. Judith wusste weder, wo sie sich befand noch kannte sie das Ziel der Reise. Der fünfzehnte Tag war angebrochen, und der Stand der Sonne verriet ihr, dass der Weg weiterhin beharrlich nach Süden führte. Jeden Morgen, wenn sie sich auf ihrem Lager die Fesseln abnehmen ließ, die verhindern sollten, dass sie sich nachts davonstahl, wunderte sie sich darüber noch zu leben. Warum war sie nicht gleich getötet worden, nachdem man sie von der Seite des Kaisers und ihres Sohnes gerissen hatte? Was hatte man mit der Frau vor, von der Erzbischof Agobard von Lyon behauptete, sie sei die Wurzel des Übels, das dieses einstmals so blühende Reich befallen hatte? In welches Kloster brachte man sie?

Die Mittagssonne brannte durch das schwere dunkle Tuch alle weiteren Gedanken aus ihrem Kopf heraus. Nur vereinzelte Bilder schwirrten noch darin herum. Die verzweifelte Miene ihres Gemahls Kaiser Ludwig, als er auf dem Lügenfeld von Colmar die Niederlage gegen seine drei ältesten Söhne eingestehen musste; der verständnislose Blick ihres zehnjährigen Sohnes Karl, dem man nicht einmal gestattet hatte, sich von der Mutter zu verabschieden; das triumphierende Grinsen ihres Stiefsohnes Lothar, der endlich am Ziel seiner Wünsche angelangt war und die unverhohlen hämische Freude seiner Gemahlin, ihrer ärgsten Feindin. Und dann war da noch die Verachtung in den eisgrauen Augen jenes abseits stehenden Mannes, den sie einst zu lieben geglaubt und der sie verraten hatte. 

Judith griff sich an die juckende Nase. Angewidert betrachtete sie die hellroten Hautschiefern, die auf ihr braunes Kleid herabregneten.

„Da ist es!“

Einer ihrer Bewacher streckte den Arm aus und wies nach vorn. Judith reckte das Haupt, konnte zunächst aber nur einen dunklen Steinturm ausmachen. Als die Reiterschar anhielt und die Männer abstiegen, sah sie unterhalb des Turms einen niedrigen Bau aus mächtigen ungleichen Gesteinsbrocken, den ein breiter Graben voll schlammigen Wassers umgab. Sie erstarrte. Dies war kein Kloster. In der Ferne, hinter sommerbraun verbrannten Feldern flimmerte die Silhouette einer Ansiedlung.

Zwei Männer traten aus dem Turmportal, ein hochgewachsener Bartträger und ein kleiner runder Glattgesichtiger. Sie überquerten die schmale Holzbrücke und blickten mit unverhohlener Neugier zu der Frau auf, die immer noch nicht abgestiegen war.

„Die abgesetzte Kaiserin?“ fragte der Größere, und als die Männer nickten, riss er Judith mit einem Ruck vom Pferd, stieß sie in den Staub und rümpfte die Nase.

„Sie stinkt erbärmlich!“

„Das ist noch ihr geringster Fehler“, rief der Anführer über seine Schulter. Er war an den Wassergraben getreten und urinierte hinein. Die anderen Wachen folgten ihm.

„Und im Gegensatz zu allen andern lässt sich der beheben. Gönnen wir ihr doch ein Bad in der frisch aufgewärmten Brühe!“

Judith wehrte sich nicht, als grobe Hände nach ihr griffen und sie mit Schwung in den Graben schleuderten. Sie hielt die Luft an, als das Wasser über ihrem Kopf zusammenschlug. Dankbar für die dunkle Kühle, die sie in der Tiefe umgab, wäre sie gern ertrunken. Aber die Männer, die sie viele Tagereisen mit sich geführt hatten, würden nicht zulassen, dass sie am Ziel wie ein Kätzchen ersoff. Sie hatten geschworen, sie heil abzuliefern. Ihren Henkern etwa? Als ihre Füße Halt im schlammigen Untergrund fanden, erhob sie sich widerwillig. Das Wasser reichte ihr bis zum Kinn. Ihr langes Blondhaar hatte sich gelöst und trieb jetzt wie ein seltsames Farngewächs um ihren Kopf herum. Mit seiner Lanze fischte einer der Wachen ihr dunkles Umschlagtuch aus dem Graben. Als er sich bückte und es ihr hinhielt, damit sie sich daran aus dem Wasser ziehen konnte, hätte sie sich beinahe bei ihm bedankt.
Das Kleid klebte ihr am Leib, doch die Gnade, sich in der Sonne trocknen zu dürfen, wurde ihr nicht gewährt. Obwohl sie bereitwillig mitging, zerrten die beiden Torwächter sie an den Armen in das steinerne Gebäude.

„Wo bin ich hier?“ versuchte sie zu fragen, brachte aber nur unverständliche krächzende Laute hervor. Nach mehreren vergeblichen Anläufen in den ersten Tagen des Ritts hatte sie es irgendwann aufgegeben, ihren Wächtern Worte zu entlocken und war schließlich selbst verstummt.

„Man darf mit ihr nicht reden“, wies der hinter ihnen gehende Anführer die beiden Männer an: „Befehl vom Kaiser!“

„Kaiser!“ Voller Verachtung versuchte sie das Wort auszuspeien. Lothar war kein Kaiser, sondern ein abgesetzter Mitkaiser. Der wirkliche Kaiser, ihr Gemahl, war sein Gefangener, dem eigenen Sohn so ausgeliefert wie sie jetzt diesen fremden Männern. 

„Sie kann offenbar gar nicht sprechen“, sagte der größere Torwächter und strich sich über den dunkelblonden Vollbart. Er ließ seinen Blick über den vor Kälte zitternden Frauenleib gleiten, um dessen Konturen sich die nasse Kleidung anschaulich schmiegte.

„Und was darf man sonst nicht?“ fragte er gedehnt.

„Sie freilassen“, erwiderte ihr Wächter lachend. „Im Übrigen könnt ihr mit ihr machen, was ihr wollt. Und sollte sie unter eurer Obhut sterben, dann ist das eben ihr Schicksal. Niemand wird euch im Heimatland des Kaisers deswegen anklagen.“

Lothars Heimatland war Italien. Er hatte sie also in das frühere Langobardengebiet verschleppen lassen, den einzigen ihm vom Vater noch überlassenen Reichsteil. „Und lasst niemanden zu ihr in den Kerker, der sich nicht als Abgesandter des Kaisers ausweisen kann.“

Kerker? Sie traute ihren Ohren kaum. Seit Jahrhunderten wurden vom Thron gestoßene unliebsame Verwandte in recht gemütliche Klöster abgeschoben. Das hatte sie selbst ja auch schon einmal überlebt. Was für einen Sinn hätte es, sie in einen Kerker zu werfen? Sollte sie da wie ein gefangenes Tier verrecken? Sie begann heftiger zu zittern. In einem abgelegenen italischen Verlies würde keiner ihrer Getreuen nach ihr suchen.

Der kleinere Torwächter kniete auf dem Boden und machte sich an einer hölzernen Falltür zu schaffen.
„Schaut her, das Schloss der Kaiserin!“ stieß er meckernd aus und hielt ein angerostetes Fallriegelschloss hoch. Er wuchtete die Bodentür zur Seite und legte ein Kellerloch frei, aus dem modriger Geruch stieg.

Der vollbärtige Torwächter versetzte Judith einen Schlag auf die Schulter. Wie aus Versehen rutschte seine Hand ab und blieb kurz auf ihrer Brust liegen. Mit der anderen Hand deutete er in das Loch. Judith beugte sich vor, da sie aber weder eine Leiter sehen, noch in der Dunkelheit die Tiefe abschätzen konnte, zuckte sie ratlos mit den Schultern.

„Wenn sie selbst springt, bricht sie sich vielleicht nichts“, schlug der Bartträger vor.
Rasch setzte sich Judith auf den Rand des Lochs, schloss die Augen und sprang. Im Fallen dachte sie nur: Wofür?