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Die Gabe der Zeichnerin – Nachwort

Den unzähligen Legenden und Geschichten, die sich um Karl den Großen und seine Pfalzkapelle ranken, habe ich mit viel Vergnügen eine weitere hinzugefügt; eine Mär mit einem wahren Kernbau, der auch zwölfhundert Jahre später noch in Aachen zu besichtigen ist. Und mit einer These, die man als höchst abenteuerlich abtun, aber historisch nicht grundsätzlich widerlegen kann: Warum sollte Harun al Raschid, Kalif von Bagdad, dem Frankenherrscher neben vielen anderen großzügigen Gaben nicht auch einen Baumeister geschickt haben?

Karl hätte das Geschenk bestimmt dankend angenommen und es sofort zur streng geheimen Verschlusssache erklärt. Sein Biograf Einhard hätte sich gehütet, der Nachwelt etwas kundzutun, was überhaupt nicht in sein Gesamtkonzept des großen christlichen Kaisers gepasst hätte. Am Bau der Pfalzkapelle soll Einhard selbst ja auch maßgeblich beteiligt gewesen sein, aber den Namen des Baumeisters erwähnt er in seiner Schrift Vita Karoli Magni nur ganz am Rande. Nichts steht darin, was diesen ansonsten gänzlich unbekannten Odo von Metz denn nun befähigt haben sollte, das ehrgeizigste Bauprojekt des Frankenkönigs zu verwirklichen. Eines, das seiner Zeit so weit voraus war, dass unter Historikern immer wieder Gerüchte kursierten, es könne gar nicht aus dem fränkischen Frühmittelalter stammen.

Es bleibt ein Geheimnis, wem es damals gelungen ist, diese steinerne Kuppel zu wölben; zu einer Zeit, da diese Kunst selbst in Byzanz schon Jahrhunderte zuvor in Vergessenheit geraten war. Als ich begann, an diesem Roman zu arbeiten, wurden gerade Eichenhölzer aus einem Ringbalken des Oktogons und einem Fundamentbalken dendrochronologisch untersucht. Dabei wurde zweifelsfrei nachgewiesen, dass die Pfalzkapelle tatsächlich auf der Schwelle zum neunten Jahrhundert gebaut worden ist. Nur wem ist diese Meisterleistung zuzuschreiben? Genau da setzt mein Roman an.

Denn wer unter Karls Kuppel die Atmosphäre auf sich einwirken lässt, kommt unweigerlich ins Grübeln. Die arabische Anmutung ist unübersehbar. Als ich an Die Beutefrau, dem zweiten Band meiner Karolinger-Frauen-Trilogie arbeitete, beschlich mich bei jedem Besuch im Aachener Dom so etwas wie ein schlechtes Gewissen, dass ich diesem Eindruck in jenem Buch keinen Raum geben konnte.

Als wir Jahre später wieder unter der Kuppel standen, erinnerte mich mein Mann an dieses Versäumnis und merkte an, mit einem Roman über den Dombau zu Aachen könnte ich wieder in meine historische Lieblingsepoche zurückkehren, jene Zeit wieder auferstehen lassen, in der auch meine Karolinger-Frauen-Trilogie spielt. Nach meinem Ausflug ins Hochmittelalter mit Die Kathedrale der Ketzerin hatte mich nämlich das Heimweh nach dem Frühmittelalter gepackt – aber was hätte ich noch über Karl den Großen schreiben können, das nicht schon längst zwischen zwei Buchdeckeln zu finden ist? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass in all den Jahrhunderten seit der Errichtung der Pfalzkapelle noch nie jemand in einem Roman versucht haben sollte, das Geheimnis um ihren Bau zu lüften. Immerhin ist der Aachener Dom das erste Denkmal in Deutschland überhaupt, das 1978 in die Liste des Welterbes der UNESCO aufgenommen wurde. Und doch fand ich keinen Roman zum Thema. Dafür stapelten sich bald die Sachbücher und Doktorarbeiten über die Marienkapelle in meinem Arbeitszimmer. Hin und wieder entdeckte ich darin einen kleinen Hinweis auf fremde Hilfe beim Bau. Anja Riedeberger schreibt in ihrer Hauptseminararbeit: „Die sichere Beherrschung der Wölbetechnik bei der Kuppel, für die es im Mittelalter bisher keine Bautradition gab, macht deutlich, dass die Pfalzkapelle nicht allein mit einheimischen Bauleuten entstanden sein kann … Auch die kunstvoll gegossenen Bronzetüren des Münsters können nur mit Hilfe von Handwerkern und Künstlern entstanden sein, die diese Fertigkeit ins Frankreich gebracht haben.“ Die Pfalzkapelle erinnere an „eine im Norden gestrandete orientalische Kathedrale“, fand ich in Will Durants Kulturgeschichte der Menschheit, und Besucher des Doms schwärmen im Internet von „maurisch angehauchten Torbögen“. Selbst der heutige Aachener Dombaumeister Helmut Maintz hielt meine Theorie bei Weitem nicht für so abenteuerlich, wie ich befürchtet hatte, als ich mit ihm Kontakt aufnahm.

Im Gegenteil; er fand meine Idee eines aus Bagdad stammenden Baumeisters „interessant“ und durchaus nicht zu verwerfen. Während der Restaurierungsarbeiten am Aachener Dom nahm er sich viel Zeit, meinem Mann und mir den Kernbau zu erklären. Wir lernten unter anderem, wie karolingischer Mörtel hergestellt wurde, welche Bedeutung die Ringanker haben, wie das Fundament dem Sumpf abgetrotzt wurde und wie man die Risse nach dem Erdbeben 803 mit Blei ausgegossen hatte. Helmut Maintz führte uns im eingerüsteten Wüstenturm bis hinauf unter die Kuppel, wo gerade das Mosaik erneuert wurde, und zeigte uns bei einem späteren Besuch auch das noch erhaltene ursprüngliche Teilmosaik am Boden, in dem man ohne sonderlich viel Fantasie den Mann mit dem Turban erkennen kann.

Mehr als zwei Jahre habe ich an diesem Roman gearbeitet. Für kein anderes Buch habe ich mir so viel Zeit gelassen und mit solcher Lust und Begeisterung solche Mengen an Material gesammelt. Ich baute ältere und aktuelle archäologische Entdeckungen ein; war begeistert, als ich erfuhr, dass zwei komplette Skelette, ein männliches und ein weibliches, im Fundament des Zentralbaus gefunden worden waren. Wie auch die merowingischen Ohrringe, die Bronzefibel und ein karolingischer Silberdenar, dessen Prägung darauf hinweist, dass das Fundament nach 794 gegossen worden sein muss.

Ezra kam ins Spiel, weil ich auch in diesem Roman nicht auf eine weibliche Hauptfigur verzichten wollte. Das aber bedeutete, dass ich mich sehr intensiv mit der Rolle der Frau im Islam des frühen Mittelalters auseinandersetzen musste. Auch dazu fand ich reichlich Rat und Lektüre. Ich las den Koran und mit großem Vergnügen noch einmal Tausendundeine Nacht in voller Länge. Drei deutschsprachige Ausgaben standen mir zur Verfügung; ich entschied mich unter anderem wegen der wunderbaren Gedichte für die Übertragung von Enno Littmann (Insel-Verlag).

Ich möchte mich bei all den vielen Menschen bedanken, die mich bei diesem Werk beraten und begleitet haben, ihr wisst, wer ihr seid. Einige möchte ich trotzdem herausheben: Ohne die Hilfe von Dombaumeister Helmut Maintz hätte ich mich nicht an dieses Thema gewagt, ohne die Aufzeichnungen aus der Studienzeit meiner alten Freundin, der Archäologin Dr. Cornelia Nippe, wäre mir das frühmittelalterliche Konstantinopel fremd geblieben, ohne meinen Nachbarn, den Sternengucker Jürgen Lemke, hätte ich nicht gewusst, wann im Mittelalter Vollmond war, ohne Carolin Gilbaya größere Schwierigkeiten mit Ezras Glauben gehabt, ohne die Kunsthistorikerin Dr. Regina Molden manches ausgelassen und ohne Ermutigung und technische Kenntnisse meines Mannes wäre ich nicht auf die Idee gekommen, diesen Roman überhaupt zu schreiben. Ohne Michaels Bereitschaft, so viel Zeit mit Ezra, Lucas und ihrem Kuppelproblem zu verbringen, hätte ich wohl kaum bis zum Schluss durchhalten können.

Kathedrale der Ketzerin – Nachwort

Meine Leser und Leserinnen mögen mir bitte verzeihen: Erstmals habe ich in einem Roman eine Hauptfigur erfunden – Clara. Allerdings hätte es eine solche Tochter des Grafen von Toulouse durchaus geben können; dieser Herr zeugte unzählige Bastarde, von denen sich viele den Katharern angeschlossen haben. Claras Weg war kein ungewöhnlicher für eine adelige Dame aus Okzitanien.

Ursprünglich sollte es in diesem Buch ausschließlich um Blanka von Kastilien gehen. Doch ich begriff im Verlauf der Recherche und des Schreibens, wie viele Blickwinkel ich zur Schilderung dieser unübersichtlichen, wirren und abenteuerlichen Zeit brauchte. Und so schlich sich Clara in die Geschichte ein, gewissermaßen die andere Seite jener Medaille, die Blanka heißt.

Alle anderen historischen Figuren haben gelebt, und an den geschichtlichen Fakten habe ich nicht gerüttelt, nur natürlich manches ausgeschmückt. Und sehr viele wichtige Persönlichkeiten und Ereignisse – vor allem jene, die den Zwist mit England betreffen – unerwähnt lassen müssen, weil dies sonst den Rahmen der Geschichte gesprengt hätte. Blankas Reise nach Rom habe ich – wie auch die Person der Lisette – erfunden, nicht aber die Tatsache, dass sie ein heimliches Gelübde abgelegt hat, von dem sie der Papst später befreite. Historiker grübeln heute noch darüber nach, um was es dabei gegangen sein mag. Als Romanautorin habe ich darauf eine Antwort gefunden. 

Der Beweis, dass Theobald König Ludwig vergiftet hat, ist nie erbracht worden, das Gerücht aber hält sich hartnäckig seit Jahrhunderten. Unstrittig ist seine ungeheuerliche Verehrung für Blanka, die er in zahlreichen Liedern dokumentiert hat. Sein ganzes Werk, dem Dante übrigens Tribut zollte, wurde 1851 von Prosper TARBÉ in der altfranzösischen Originalsprache veröffentlicht, zusammen mit einem ausführlichen Text über Herkunft, Leben und Taten des Grafen von Champagne und über seine Beziehung zu Blanka von Kastilien. Ich habe die Übersetzung einiger seiner Verse manchen Kapiteln vorangestellt, mir aber erlaubt, die Gedichte im Roman nach dem Muster höfischer Lyrik selbst zu verfassen. Der von ihm gestaltete Vertrag von Paris/Meaux gilt auch heute noch als juristisches Meisterwerk. „Und das in einer Zeit, in der die verschiedenen Fragen meist ohne große Logik und ziemlich verworren abgehandelt werden“, schreibt Règine Pernoud in ihrer großartigen Blanka-Biografie Herrscherin in bewegter Zeit
Als König von Navarra starb Theobald im Jahr 1253, ein halbes Jahr nach der von ihm so feurig verehrten Blanka. Die übrigens bis zu ihrem Tod allein regierte, ohne Kronrat oder andere Institution. Und eigentlich auch ohne ihren Sohn, den König. Wie der Historiker Gerd Treffer schreibt: „In der Praxis wird Ludwig der Vormundschaft seiner Mutter erst durch ihren Tod entrinnen.“ Blanka soll übrigens eine grauenhafte Schwiegermutter gewesen sein. 

Über eine Liebesbeziehung zwischen ihr und Raimund VII. von Toulouse gibt es historische Gerüchte zuhauf, aber keinerlei Belege. Außerdem wurde ihr ein Liebesverhältnis mit dem päpstlichen Legaten Frangipani nachgesagt, was ich aber angesichts ihrer gut belegten Frömmigkeit für unwahrscheinlich halte und daher nicht aufgegriffen habe. Raimund wird seinem Kreuzzugs-Gelübde erst im Jahr 1249 nachkommen, stirbt jedoch auf dem Hinweg. Die Ehe seiner Tochter Johanna mit Prinz Alfons galt als glücklich, blieb aber kinderlos.

Die geheimnisumwitterte alte Königin Ingeborg stirbt 1236 in Corbeil, wo sie auch bestattet wird.

Über die Katharer ist viel geschrieben und spekuliert worden, wiewohl sie selbst kaum schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben. Den umfassendsten Einblick in ihren Glauben und Alltag bietet ausgerechnet ihr ärgster Feind: Die Inquisition hat penibel Protokoll über die Prozesse geführt. Ich verweise jeden, der mehr über diese Glaubensgemeinschaft wissen will, auf die Bibliografie am Ende dieses Romans. Derzeit erleben die Katharer gewissermaßen eine Renaissance, wie ich auf meiner Reise durchs Languedoc feststellen konnte, wo mich überall auf Schildern das Land der Katharergrüßte. An dieser Stelle möchte ich mich bei meiner alten Schulfreundin Sabine Stenger bedanken, die in Carcassonne lebt und mir viele nützliche Hinweise gegeben hat. Dank gebührt auch meinen Freunden Brigitte Ahrens und Thomas Augustin, mit denen wir durch das Languedoc gereist sind und ein unvergessliches Gewitter im Schutz der Burgruine des Montségur erlebt haben. Ich danke auch Claude-Cyrill Laurent, der die erste Fassung des Manuskripts gelesen und nicht nur gewisse geografische Unstimmigkeiten richtig gestellt, sondern mir auch den Unterschied zwischen einem Troubadour und einem Trouvère erläutert hat (siehe Glossar). Dank auch an Roswitha Follmann, die alles über die Garderobe des Mittelalters weiß und an Gisela Leuer, die sich in Religionen aller Art bestens auskennt und mich beim Schreiben angefeuert hat. Natürlich gebührt meinen beiden Lektorinnen Christine Neumann und Anja Rüdiger ebenfalls Dank. Aber vor allem möchte ich mich bei meinem Lebenspartner Michael bedanken. Ohne seinen unermüdlichen Ansporn, seine Kritik, seine fundierten Ratschläge, seine Begeisterung für das Thema und seine Liebe wäre es mir erheblich schwerer gefallen, die Fülle des Materials zu einem Roman zu verarbeiten, dessen Schreiben mir viel Freude bereitet hat.

M.K. Januar 2011

Die Rebellin von Mykonos – Nachwort

Nachwort zur überarbeiteten Neuauflage von „Die Rebellin von Mykonos“

Auf der beliebten Touristeninsel Mykonos lebt Mando Mavrojenous (auch: Manto Mavrogenous) in der Erinnerung der Einheimischen und im Namen diverser Bars, Cafés und Hotels weiter. Auch jener zentrale Platz am Hafen, wo ihr – wie auch auf Paros und in Athen – ein Denkmal errichtet wurde, ist nach ihr benannt worden. Reisende konnten früher unbesorgt ihre Rucksäcke zu Füßen der hohen Büste legen, während sie auf Zimmersuche gingen. Deshalb hatte ich die Steinfigur zunächst für eine Schutzheilige des Eigentums gehalten. Erst sehr viel später erfuhr ich, wen sie wirklich darstellt und welche Bedeutung sie für die griechische Geschichte hat.

Die Idee zu diesem Roman aber reifte, als ich schon längst nicht mehr auf Mykonos lebte. Schweren Herzens hatte ich die Insel im Jahr des deutschen Mauerfalls verlassen. Auch für mich war es damals Zeit für einen Neustart gewesen. Also zog ich nach Amsterdam, baute mir dort eine Existenz als Übersetzerin auf und schrieb meinen ersten historischen Roman „Die Marketenderin“. Dieses Buch kam im deutschsprachigen Raum so gut an, dass ich mich darauf freute, einen weiteren Roman schreiben zu können. Am liebsten wieder über eine bemerkenswerte Frau und am allerliebsten über eine, die mich zumindest literarisch nach Griechenland zurückbringen könnte.

Da fiel mir die Büste am Hafen von Mykonos ein. Welche Geschichte steckte hinter dieser Frau, deren Bildnis in einem Land der Männerherrschaft auf einen Sockel gestellt worden ist? Ich kehrte für ein halbes Jahr auf die Insel zurück, die so lange mein Zuhause gewesen war. Dort wie auch später in Nauplia und Athen folgte ich den Spuren Mandos.

Langsam entfaltete sich dabei das Bild einer spannenden und zerrissenen Persönlichkeit. Mando hatte nicht nur der türkischen Besatzungsmacht den Kampf angesagt, sondern auch dem Verhaltenskodex, der das Leben der griechischen Frau einengte. Interessanterweise aber machte sie sich gerade manche dieser Konventionen zunutze, um ihrem Land zur Unabhängigkeit und sich selbst zu größerer Freiheit zu verhelfen.

Frauenleben in den 1980er Jahre auf der Insel Paros

Das fand ich nicht immer sympathisch, aber nachvollziehbar und durchgängig faszinierend. Schließlich hatte ich Anfang der Achtzigerjahre selbst erlebt, wie eingeschränkt sich noch damals das Leben der meisten einheimischen Frauen auf Paros gestaltete. So heftig sie im Familienkreis auch das Zepter schwenken mochten, außerhalb des Hauses hatten sie wenig zu melden, wenn man sie denn jenseits von Einkauf und Kirchgang je sah. Ich saß in ihren Küchen, wo sie mit grimmiger Lust und unübersetzbaren Ausdrücken Salatgurken in Scheiben hieben. Ungeschulte Mütter diktierten mir Briefe an die Verwandtschaft in fernen Landen, und ihre Töchter baten mich, ihnen Englisch beizubringen. Die Söhne sollen lernen, murrten die Mütter, doch diese hatten meist wenig Lust und wollten höchstens ein paar Phrasen aufsagen können, um Touristinnen anzumachen oder Hotelzimmer zu vermieten. Die Mädchen aber lernten wie besessen – beseelt von der Hoffnung auf ein Leben jenseits der Insel. Bildung war ihr Ticket in die Freiheit vom Zwang einer vorgezeichneten Zukunft. Sie löcherten mich mit Fragen. Und verstanden nicht, weshalb ich mich freiwillig auf jener Insel niedergelassen hatte, die sie um jeden Preis verlassen wollten. 

Eines Tages stellte mir eine junge verheiratete Frau eine Frage, die mich ungemein verstörte: „Warum lassen sich Touristinnen mit unseren Männern ein? Heiraten können sie die nicht und Geld nehmen sie dafür auch nicht. Ich bin froh, wenn mich mein Mann in Ruhe lässt, aber was haben die ausländischen Frauen denn bloß davon?“

Als mir dann noch auffiel, dass junge verheiratete Frauen den Verlauf der Zeit oftmals so markierten: „Das war nach meiner vierten … fünften … oder sechsten Abtreibung …“ suchte ich die Hebamme des Ortes auf, eine offene und aufgeklärte Frau aus Athen.

„Ärzte reden den Frauen ein, die Pille mache krank“, sagte sie. „Wenn die Frau schon einen oder zwei Söhne geboren hat, raten sie zur Abtreibung als Empfängnisverhütung. Das ist für den Arzt deutlich lukrativer.“ Sex, so bestätigte sie, betrachteten die meisten jungen Frauen ausschließlich als lästige eheliche Pflicht, der sie nachgehen müssten, um einen Sohn zu gebären. Denn wenn dieser irgendwann selbst heiratete, hatte sie mit einer Schwiegertochter zum Rumkommandieren die höchste Stufe der ihr möglichen Macht erreicht. Töchter waren nicht nur nicht erwünscht, sondern oftmals eine Katastrophe: Deren Mitgift konnte eine Familie ruinieren. Es gehörte sich nämlich, jede Tochter zur Hochzeit mit einem fertig eingerichteten Eigenheim auszustatten und den frischgebackenen Ehemann mit genügend finanziellen Mitteln für ein eigenes kleines Unternehmen. In manchen Familien legten sich Vater und Söhne hauptsächlich für die Aussteuer des weiblichen Nachwuchses krumm. 

Mittelalter, dachte ich, nicht wissend, dass ich viele dieser Erfahrungen Jahre später in einem historischen Roman verarbeiten würde, der im 19. Jahrhundert spielt.

Damals wollte ich sofort etwas tun. Also gründeten die verzweifelte Hebamme, meine Freundin Dina, eine gebildete Athenerin, und ich ein „Frauen-Kafenion“. Im Remezzo, der Bar von Dinas Ehemann, luden wir jeden Mittwoch die Frauen von Naoussa zu Vortrag und Gespräch ein. Mit Stick- und Strickzeug bewaffnet schlichen also junge Inselbewohnerinnen am Nachmittag in die ihnen bis dato nur von außen bekannte Bar, dahin, wo mancher Ehemann sonst Touristinnen ansprach.

Doch unserem Aufklärungsprogramm war nur ein kurzes Leben beschieden. Wer sprengte nach dem dritten Treffen die Versammlung? Die alten Frauen! Keifend trieben sie ihre Schwiegertöchter aus dem Laden und beschimpften uns, ihre Mädchen dem Verderben auszuliefern.

Kurz danach verließ ich Paros. Auf der kosmopolitischen Insel Mykonos sahen Leben und Lieben deutlich anders aus.

Als ich dann sehr viel später über Mando schrieb, war mir eins klar: Meine Heldin sollte auf jeden Fall Freude am Liebesakt haben, und das wollte ich deutlich schildern. Daran sind auch die Schwiegermütter von Paros schuld.

Meine eigene Mutter war über die expliziten Sexszenen in meinem Roman nicht glücklich. „Deshalb kann ich das Buch meinen Freundinnen nicht schenken“, klagte sie. „Die werden alle fragen, ob Martina das selbst so erlebt hat.“

Fakt und Fiktion
In der Nähe ihres Denkmals auf Mykonos befindet sich Mandos einstiges Haus. Es ist heute öffentlich zugänglich, da es die Inselbibliothek beherbergt. An der Wand kann man den weitverzweigten Mavrojenous-Stammbaum studieren. Da wundert es nicht, dass fast jeder Einheimische behauptet, mit Mando verwandt zu sein, und mir viele Mykoniaten mit großer Freude bei meinen Recherchen halfen.

Als ich mich Ende der Neunzigerjahre an meinen Roman setzte, war das Internet noch keine Hilfe. Ich sammelte meine Informationen also vor Ort. Mitarbeiter der Inselverwaltung freuten sich sehr, dass ich ihrer Heldin ein literarisches Denkmal setzen wollte, und überreichten mir die von ihnen herausgegebene damals gerade erst erschienene Biografie von Manouil Tassoulas über Mando. Als historischer Leitfaden war dieses Buch sehr wertvoll.

Doch hauptsächlich setzte ich mir vieles aus mündlich überlieferten Geschichten zusammen und erfuhr im Nebenlauf mehr über Sitten, Gebräuche und Legenden der Insel als in den acht Jahren, in denen ich mit den Mykoniaten zusammengelebt hatte. Endlich wusste ich, was hinter den Yaloudes-Puppen in den Touristengeschäften steckte und was es mit dem Riesen auf sich hatte, vor dem sich die Kinder fürchteten.

Mando war nicht nur eine reiche Aristokratin gewesen, die ihr gesamtes Vermögen dem griechischen Freiheitskampf geopfert hatte, sondern sie soll sogar als Kriegerin eigenhändig die Türken von Mykonos vertrieben haben. Und als ob das noch nicht genügte: Sie hatte tatsächlich in wilder Ehe mit dem Freiheitskämpfer Dimitris Ypsilanti zusammengelebt, den Respekt des in vielen Liedern immer noch besungenen alten Recken Kolokotrinis gewonnen und auf alle Konventionen der Zeit gepfiffen. Viele ihrer Landsleute fühlen sich heute noch schuldig bei dem Gedanken, dass diese beeindruckende Frau als Fußnote der griechischen Geschichte verarmt und vergessen gestorben ist. Erst nach ihrem Tod hat man sich ihrer Verdienste wieder erinnert und ihr auf Paros ein eindrucksvolles Leichenbegängnis gestaltet. 

Während in den Archiven keine Unterlagen darüber Aufschluss geben, wie Mando die Türken bei ihrem zweiten Ansturm von Mykonos verjagt hat, fand ich die Antwort gewissermaßen vor der Haustür: Als ich das Buch in einem Häuschen am – damals noch unverbauten – Strand von Kalo Livadi schrieb, deutete mein Vermieter aus dem Fenster und erzählte mir die Geschichte von der zum Dampfschiff verwandelten Felsengruppe. Die Steinhütte oberhalb des Strandes stammt tatsächlich aus dem 19. Jahrhundert und hätte Mando und Marcus durchaus als Liebesnest gedient haben können – wenn es denn diese Affäre wirklich gegeben hätte. Unwahrscheinlich ist sie nicht, aber Belege dafür waren natürlich nicht zu finden. Tatsache aber ist, dass Mando in Marcus‘ Haus auf Paros an Typhus gestorben ist.

Die Geschichte des englischen Lords und der einstigen seltsamen „Kurzheiratsgebräuche“ der Insel Mykonos entnahm ich der Schrift des Insellehrers, Historikers und Literaten Panayiotis Kouthasanas mit dem Titel: „Ein irischer Lord auf Mykonos, Delos und Rhenia im Jahr 1749“. Mando hat Dimitri Ypsilanti tatsächlich mit dem gleichen Trick hereinlegen wollen. Wenn man bedenkt, wie verzweifelt und mittellos sie damals gewesen ist, verübelt man es ihr vielleicht weniger.

Ich habe mich in diesem Roman streng an alle überlieferten Fakten und Daten gehalten. Und nur sehr wenige Figuren erfunden: Vassiliki (wiewohl Ali Pascha tatsächlich eine Gefährtin dieses Namens hatte), die Dienstboten in Nauplia, Hussein Pascha, sowie Selim und seine Frau. Fast alle anderen Protagonisten sind mir bei meinen Recherchen begegnet, sogar Marmellakis, der letzte Seeräuber von Mykonos. Dass Mando eine Tochter geboren hat, ist allerdings auch nicht verbürgt, aber darüber kursierten durchaus Gerüchte. Unstrittig ist, dass sie von ihrem Onkel auf Tinos für den Freiheitskampf rekrutiert und ausgebildet worden ist – zusammen mit dem armen Jakinthos. Auch ihre Entführung aus Nauplia und Zurückverfrachtung auf die Heimatinsel sind historisch belegt. Ihr Vater ist wahrscheinlich nicht ermordet worden, sondern starb wohl tatsächlich an einem Herzinfarkt. Der grüne Kasten allerdings ist ein Produkt meiner Fantasie. 

„Die Türken kommen!“

Vierhundert Jahre türkische Besatzung hinterlassen ihre Spuren. Vor allem im kollektiven Gedächtnis. Zurück zu den 1980er Jahren: Wenn damals irgendwo in der Ägäis ein türkisches Kriegsschiff gesichtet wurde oder es mit der Türkei Streit um eine Felseninsel oder Ölschürfrechte gab, brach auf Mykonos und den anderen Inseln Panik aus. Fassungslos beobachtete ich die Hamsterkäufe in den Märkten und hörte die Aufrufe an junge wehrpflichtige Männer.

„Die Türken kommen!“, wurde ich angefaucht, wenn ich vorsichtig darauf hinwies, dass sich wohl kaum zwei NATO-Staaten bekriegen würden. „Du verstehst das nicht!“ Die Angst ging um, Angst vor den Türken, die nur im Sinn hätten, ihr altes Osmanisches Reich wieder zurückzuerobern. Dieser Angst war mit rationalen Argumenten nicht zu begegnen. Auch nicht jenen Griechen, deren Namen auf -glou endete, was eine eigene türkische Herkunft mehr als nur erahnen lässt. Umso überraschter war ich, als der Vater meiner Freundin Zeta, ein selbst einst aus Kleinasien vertriebener Grieche namens Aristoteles, mir sagte: „Wir sollten eigentlich keine Probleme mit den Türken haben, im Verlauf der Jahrhunderte sind sie doch unsere Brüder geworden.“

Wie gut sich beide Länder verstehen können, zeigte sich, als sowohl die Türkei als auch Griechenland kurz nacheinander von Erdbeben heimgesucht wurden – und sich Bürger beider Länder spontan gegenseitig Hilfe leisteten. Ich bleibe zuversichtlich, dass die Türkei und Griechenland auch bei der Lösung der aktuellen Probleme gemeinsame Wege einschlagen werden.

Herzlich bedanken möchte ich mich bei den vielen Mykoniaten, die mich mit Anekdoten, Überlieferungen und Legenden versorgt haben. Suzy Hanioti half mir bei der Entzifferung von Mandos Briefen, und meine Freundin Zeta Bairaktari recherchierte in den Archiven von Nauplia und führte mich zu Mandos dortigen Domizilen. Zeta und den Menschen von Paros und Mykonos ist dieses Buch gewidmet.

Martina Kempff, Bergisches Land 2016

Die Marketenderin – Nachwort

„Die Marketenderin – mit Napoleon in Russland“; 
Nachwort zur überarbeiteten Neuauflage

Der Marketenderin habe ich sehr viel zu verdanken. Zu allererst natürlich mein Leben:
Auguste Juliane Assenheimer, die mit Napoleons Truppen nach Moskau zog, war meine Urururgroßmutter. Ohne sie hätte es mich also nicht gegeben.

Und ohne sie wäre ich vermutlich nie Schriftstellerin geworden. Diesen Berufswunsch hatte ich zwar schon als Sechsjährige geäußert, ihn aber nach vielen vergeblichen Anläufen jahrzehntelang ad acta gelegt. Ich war Mitte vierzig und arbeitete in Amsterdam als Journalistin und Übersetzerin, als plötzlich mit meinem entfernten Verwandten Gerhard Schreiber auch die Marketenderin und Johannes Gerter in mein Leben traten.

Schlage die Trommel und fürchte dich nicht
Und küsse die Marketenderin!
Das ist die ganze Wissenschaft,
Das ist der Bücher tiefster Sinn.

Heinrich heine

Gerhard Schreiber (1922–2007) stammte nicht nur ebenfalls von Juliane Assenheimer ab, sondern hat in vierter Generation als letzter Nachfahre genau jenen Verlag weitergeführt, den ihr Sohn Jakob Ferdinand, 1831 gegründet hatte.

Kurz bevor Gerhard in den Ruhestand ging und der I.F. Schreiber Verlag erstmals in familienferne Hände übergeben wurde, entdeckte er im Archiv das 1838 veröffentlichte Tagebuch eines württembergischen Leutnants, der den grausamen Feldzug 1812 überlebt hatte. Gerhard schlug mir vor, daraus einen Roman zu machen und ihn mit unserer gemeinsamen Familiengeschichte zu verknüpfen. Das Thema reizte mich, doch angesichts meiner früheren schlechten Erfahrungen mit eingesandten Manuskripten beschied ich ihm, ohne bindende Zusicherung eines Verlags niemals wieder ein Buch zu schreiben. Mein Cousin überredete mich, eine Leseprobe zu verfassen, mit der er dann bei rund fünfzig Verlagen vorstellig wurde und nur Absagen erhielt – übrigens auch von dem Verlag, der ein Jahr später viel Geld für die ersten Taschenbuchrechte zahlen sollte! Als einstiger Verleger hatte sich Gerhard Schreiber von Ablehnungen nämlich nicht so leicht abschrecken lassen und schließlich vom Weitbrecht Verlag in Stuttgart die Zusage erhalten. Da machte ich mich an die Arbeit.

Als Leitfaden diente mir das schmale Bändchen mit dem sonderbaren Titel „Die Württemberger in Russland – Denkwürdiges aus dem Jahr 1812“, das Gerhard in seinem Verlag ausgegraben hatte. Der Autor dieses unglaublich eindrucksvollen Zeugnisses eines wahnsinnigen Feldzuges und seiner grausamen Folgen musste Gründe gehabt haben, anonym bleiben zu wollen.

„Von einem Württembergischer Officier“ steht auf dem Buchdeckel, über den in Sütterlin handschriftlich „Johannes Gerter“ gekritzelt worden ist. Deshalb vermuteten wir hinter diesem Namen den Tagebuchschreiber, auch wenn wir ihn in den Archiven nicht unter den bekannten Überlebenden des Feldzugs entdecken konnten. Möglicherweise befürchtete der Autor Repressalien, da er in seinem Werk ohne jegliche Beschönigung Ross und Reiter nennt. Allerdings tut er sich selbst im Nachhinein durchaus schwer damit, Napoleon die Hauptschuld am Scheitern des wahnwitzigen Unternehmens zu geben. Er macht – wie andere mehr als hundert Jahre später im Zweiten Weltkrieg – das Klima für die Katastrophe verantwortlich: „Nun ging es von Moskau »rückwärts«, mit Eintritt des fürchterlichen nordischen Winters; die Summe aller Leiden sollte nun beginnen und in immer schrecklicherer Steigerung das schönste und zahlreichste Heer, das die Welt je gesehen, auf russischer Erde vertilgen!“

Der Sinnspruch auf dem Titelblatt verweist jedoch durchaus auf vorsichtige Kritik am französischen Kaiser: „Wen Jupiter verderben will, den verblendet er.“

Ich habe jedem Kapitel des Romans eine entsprechende Passage aus dem Tagebuch in der Orthografie des Originals vorangestellt. Eine allgemein verbindliche Rechtschreibung gab es damals noch nicht. Ja, nicht einmal eine individuelle: Der Autor handhabt beim gleichen Wort oftmals unterschiedliche Schreibweisen.

Ich muss allerdings gestehen, dass ich aus dramaturgischen Gründen ein einziges Mal den Originaltext verfälscht habe. Die ersten beiden Sätze im Vorspann zum letzten Kapitel stammen von mir: „Wäre auch das Ziel der Freiheit entfernter gelegen, so sicherte mir doch der längere Aufenthalt in Moskau eine angenehme und sorgenfreie Existenz. Wie es anderen gefangenen Cameraden andernorts erging, vernahm ich von russischen Offizieren, die im Hause Zimmermann ihre Aufwartung machten.“ Der Autor selbst war nämlich auch „andernorts“ in Gefangenschaft und ist erst sehr viel später nach Moskau zurückgekehrt. Manche Orte, die er im Tagebuch erwähnt, gibt es heute nicht mehr. Vielleicht sind sie gänzlich vernichtet oder umbenannt worden. Später hat sich auch mein französischer Übersetzer Claude-Cyrill Laurent mit diesen Namen herumgeschlagen – bis heute wissen wir zum Beispiel nicht, wo genau der im Tagebuch erwähnte Ort Evé sein soll. Ich habe ihn auch nicht auf alten Landkarten aufspüren können. Das Tagebuch kann heute übrigens im Württembergischen Landesmuseum in Stuttgart eingesehen werden.

Von den Beschreibungen der Kriegshandlungen, der Orte und Schreckenstaten habe ich nichts erfunden. Ich tauchte tief in die Geschichte dieses Feldzugs ein; auf meinem Schreibtisch stapelte sich jede Menge Literatur zum Thema. Herausheben möchte ich das vorzügliche Buch von Nigel Nicolson: „Napoleon in Rußland“ (Benziger Verlag), das wie gerufen genau in jenen Tagen in Deutschland herauskam, als ich mit der Arbeit an meinem Roman begonnen hatte.

Gerhard Schreibers Idee, die Ereignisse aus dem Tagebuch mit unserer gemeinsamen Familiengeschichte zu verbinden, stellte mich vor eine sehr schwierige Aufgabe. Es gibt zwar reichlich Material über den Sohn der Marketenderin Jakob Ferdinand Schreiber (siehe den Auszug aus den Memoiren meines Vaters), aber das Schicksal seiner Eltern liegt im Dunklen. Ich fragte in der Familie herum. Manche Nachkommen glaubten zu wissen, dass Matthäus und Juliane zusammen aus dem Krieg zurückgekehrt waren, andere hielten sich an vermeintliche Überlieferungen, beide seien an der Beresina umgekommen. Auch Gerhard Schreiber war zunächst von dieser Version überzeugt.

Leider lebte mein familienforschender Vater nicht mehr, als ich mit den Recherchen begann. Doch in seinem Nachlass fand ich einen Bezug zu einem Kirchenbucheintrag, wonach Auguste Juliane Assenheimer (Marketenderin) am 18.10.1823 in Ulm gestorben sein soll.

Sie ist also auf jeden Fall zurückgekehrt.

Die schlechte Quellenlage könnte einem überlieferten familiären Unbehagen geschuldet sein: Der Korporal und die Marketenderin hatten vor dem Feldzug den damals schon dreijährigen Jakob einfach in der Ulmer Kaserne zurückgelassen. Mit neun kam er in ein Militärwaisenhaus. Nach ihrer Rückkehr aus Russland soll sich die Mutter nie wieder um ihren Sohn gekümmert haben. Mein Vater schrieb dazu entschuldigend: „Sie war wohl sehr krank.“

Viel mehr hat er über die Assenheimerin auch nicht in Erfahrung bringen können. Meine Großmutter, die eine sehr feine Dame war und stets in höchsten Tönen von der Wichtigkeit ihres Großvaters sprach, konnte recht ungehalten werden, wenn mein Vater darauf hinwies, sie stamme von einer Marketenderin ab. Schade, dass beide nicht mehr erleben konnten, wie aus unserer Ahnin eine Romanfigur wurde.

Mit der Wirklichkeit hat die Juliane Assenheimer meines Romans also eher weniger zu tun. Ich gestehe hiermit, unsere Familiengeschichte umgebogen zu haben.

Hier sind die bekannten Fakten: Auguste Juliane Assenheimer war ehelich geboren und bereits zweiunddreißig Jahre alt, als sie mit ihrem Mann, dem Korporal Matthäus Schreiber, nach Moskau zog. Jakob wurde nicht – wie im Roman geschildert – in Moskau geboren, sondern am 6. 2. 1809 (genau 100 Jahre vor meinem Vater) in Schorndorf.

Die Liebesgeschichte zwischen Juliane und Johannes Gerter habe ich frei erfunden, um die Erzählstränge miteinander zu verbinden.

Wie im Rausch schrieb ich den Roman innerhalb von nur sechs Wochen fertig. („Das dürfen Sie niemals jemandem verraten“, hat mir damals mein Verleger zugeraunt.) Jede wache Minute saß ich vor dem mir damals noch recht neuen und unvertrauten PC. Wenn ich schlief, träumte ich die Träume der Assenheimerin. Hungernd und frierend stapfte ich durch tiefen Schnee, erschoss Menschen, die mir zu nahe kommen wollten, riss mit den Zähnen Fleisch aus sterbenden Pferden, versank in eisigen Fluten und verstand die Welt um mich herum nicht mehr. Lass es endlich Frieden werden!

Längst ging es mir nicht mehr nur darum, Schriftstellerin zu werden; ich musste diese Geschichte erzählen und diesen Feldzug überleben. Den Menschen in meiner Umgebung schauderte in jener Zeit vor mir. Ich muss mit glasigen Augen herumgeschlendert sein, Essen in mich hineingeschlungen und Scheußliches erzählt haben.

Mein Roman wurde ein großer Erfolg. Vier unterschiedliche Verlage haben im Laufe der Jahre die Ursprungsfassung veröffentlicht. Dabei ist die Rechtschreibreform mit ihren vielen Änderungen und Anpassungen über das Buch hinweggegangen: Es wurde von meiner noch alten in die ganz neue, in eine moderat neue, wieder in die alte und dann wieder in eine aktuellere Rechtschreibung gesetzt. Ich erschrak, als ich die im Weitbrecht Verlag erschienene Erstausgabe (1998) in Händen hielt. Die in Baden-Württemberg damals übliche extreme neue Rechtschreibung verzichtete fast gänzlich auf Kommata – was meine Bandwurmsätze sogar für mich gelegentlich nahezu unverständlich machte. (Im nächsten Roman „Die Rebellin“ wurden meine Sätze deshalb erheblich kürzer!) Es juckte mir schon damals in den Fingern, meinen Erstling zu überarbeiten. Doch ich war Schriftstellerin geworden, konnte sogar davon leben und musste deshalb jedes Jahr etwas Neues liefern.
Inzwischen habe ich sechzehn Romane geschrieben und viel dazu gelernt. Mir wurde immer wichtiger, die Feinheiten der Sprache herauszuarbeiten. Darauf hatte ich im Eifer des Schreibens bei meinem ersten Roman leider überhaupt nicht geachtet.

Schon deshalb war ich sehr beglückt, als mir der Ammianus Verlag die Gelegenheit bot, meinen ersten Roman zu überarbeiten. Am Inhalt habe ich nichts geändert, aber hier und da sprachlich einiges geglättet, Überflüssiges herausgenommen und Sätze eingekürzt. Das Abenteuer, mich nach fast zwanzig Jahren wieder um meinen Erstling zu kümmern, ähnelt vielleicht jenem, nach zwei Jahrzehnten einem vernachlässigten, aber dennoch geliebten Kind wiederzubegegnen. Man kann nicht alle Erziehungsfehler wieder gut machen, ist aber froh, dass es dennoch gut geraten ist, Spannendes aus seinem Leben erzählen und anderen Menschen Freude bereiten kann.

Martina Kempff, Bergisches Land 2015

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