Erschrecken

Mittwochnachmittag

„Möchten Sie ein Huhn adoptieren?“

Die Stimme klingt weich, weiblich und sehr jung. Dennoch jagt sie mir einen Todesschreck ein. Ich habe keinen Menschen herankommen hören. Niemals wäre ich vor meinem Restaurant auf die Leiter gestiegen, wenn ich irgendjemanden in Sichtweite vermutet hätte. Zentnermenschen wie ich vertrauen ihr Gewicht ohnehin nicht gern ansteigenden Sprossen an. Aber mir bleibt keine Wahl. Weil das immer noch schief hängende Restaurantschild meine Mitarbeiter nicht zu stören scheint, werde ich es eben selbst gerade rücken müssen.

An diesem ungewöhnlich freundlichen Frühlingstag Ende April rechne ich mit keiner Windhose, die mich herabschleudern könnte. Wiewohl ich sehr gut weiß, dass hier in der Schnee-Eifel, kurz Schneifel genannt, nicht nur jede von mir bestiegene Leiter, sondern auch das Wetter sehr schnell umschlagen kann. 
Wenn die Einkehr morgen endlich aufmacht, soll alles perfekt sein. Schließlich habe ich lange genug auf dieses Ereignis warten müssen. Nicht nur Behördenquälereien, sondern vor allem Gewaltverbrechen scheußlichster Art hatten die Eröffnung meines speziellen Feinschmeckerrestaurants immer weiter hinausgezögert.

Aber da nicht nur meine Zukunft, sondern auch die meiner Freunde vom Erfolg der Einkehr abhängt und ich zudem aus statistischen Gründen davon ausgehe, dass in diesem Flecken namens Kehr für Jahrhunderte im Voraus genug gemordet worden ist, bin ich hier an der deutsch-belgischen Grenze geblieben. Mit dem Restaurantschild hat Jupp heute früh unsere Zukunft festgenagelt.

Nur leider schief. 

Ästhetisch und symbolisch verstörend. Darum bin ich in die Luft gegangen.
Aus der ich jetzt äußerst vorsichtig hinabsteige.

„Wie bitte?“, frage ich, als ich wieder meinen eigenen festen Grund unter den Füßen habe.

Vor mir steht ein streng bezopftes blondes Mädchen in einem viel zu umfänglichen geblümten Kittelkleid, das in den Fünfzigerjahren wohl der letzte Schrei gewesen sein mag. Unter dem absurden Gewand lässt die Frühlingsbrise eine sehr zierliche Figur erahnen. Ein solches Bauernkind habe ich hier noch nie gesehen. Es hält mir ein Papptablett mit Eiern hin und wiederholt die Frage, die mich erschreckt hat: „Möchten Sie ein Huhn adoptieren?“

In der Schale?“, gebe ich prompt zurück und streichele ein braunes Ei.
„Natürlich nicht“, flüstert das vielleicht fünfzehnjährige Mädchen, wird knallrot und verstummt. Offensichtlich pubertäre Verlegenheit. Erst als sie mich fast flehentlich ansieht, fällt mir auf, wie ausnehmend hübsch das so unvorteilhaft hergerichtete Geschöpf ist. Eine zarte exquisit erblühte zarte Schönheit, bei der sich bereits klassische Züge ähnlich denen einer Diva der Kinofrühzeit abzeichnen.

Kein Modefotograf würde an einer solchen Versuchung vorbeigehen können, ohne ihr mit ein paar aufmunternden Worten seine Visitenkarte zuzustecken. In meinem früheren Leben als Moderedakteurin für ein Hochglanzblatt ist mein Blick für das optisch Besondere im Alltäglichen aufs Feinste geschärft worden. Dieses Engelsgesicht ist eine Sensation. 

„Wenn du einen Witz machst, darf ich das auch“, gebe ich sanft zurück. Ich überlege, ob es nun ein Segen oder ein Fluch ist, dass die großen dunkelblauen Augen unter diesen Nerzhaar-Wimpern nur Kuh bestandene Weiden und menschenleere Weiten erblicken müssen. 

„Es ist kein Witz. Wenn Sie ein Huhn adoptieren, schenkt es Ihnen jeden Tag ein Ei“, erwidert sie.

„Schau mal“, sage ich, deute nach oben auf das Schild und sehe gleich wieder weg. „Das hier ist ein Restaurant. Was nutzt mir da ein einziges Ei am Tag?“
„Eben!“, bestätigt das Mädchen. „Wenn Sie zehn Hühner adoptieren, kommt Sie das im Monat günstiger als wie jeden Tag zehn Eier woanders zu kaufen.“
Vorsichtig stellt sie das Eiertablett auf einem der beiden Gartentische am Eingang ab.

„Genauso stelle ich mir mein Restaurant vor“, sage ich kopfschüttelnd, „Unter jedem Stuhl scharrt ein Huhn.“

„Nein, nein“, sagt die schöne junge Hühneradoptionsvermittlerin, „die Tiere bleiben bei uns; Sie müssen sich um gar nichts kümmern, und die Eier bringe ich Ihnen jeden Tag selbst her. Ein Huhn kostet zehn Euro im Monat, zehn Hühner sind 80 Euro und zwanzig Hühner 150 Euro. So viel Bioeier im Laden kosten …“

„… mehr“, erwidere ich nickend, ohne nachzurechnen. Als Schwan unter Hühnern. So ähnlich könnte die Schlagzeile lauten, mit der meine Ex-Kollegen vom Boulevard den sicheren Sieg dieser Eifelerin beim Model-Casting feiern würden.

„Und Sie tun ein gutes Werk, wenn Sie unseren Gnadenhof unterstützen.“
Nein, ich täte kein gutes Werk, meinen alten Kontakten dieses Landei zum Fraß vorzuwerfen. Die Branche würde sie kaputt machen, ihr vermutlich in jederlei Hinsicht die Unschuld rauben. So etwas darf ich nicht auf mein Gewissen laden. 

Gnadenhof, hat sie gesagt. Also wohnt das Mädchen in Gudruns altem Haus ein paar hundert Meter weiter. Es gehört jetzt David, dem Mann aus Texas, der im vorigen Jahr herkam, um jenes Eigentum wieder in Besitz zu nehmen, das seiner Familie von den Nazis gestohlen worden war. Wir hatten seine Mutter zwei Jahre zuvor als legitime Erbin ausfindig gemacht und ihr den Hof übereignet, den ich durch Unrechtshandlungen anderer geerbt hatte. Und auf dem meine Freundin Gudrun aufgewachsen ist.

Gudrun hat sich vor fast zwei Jahren in einer Hinterkammer meines Restaurants häuslich niedergelassen und wird ab morgen in der Einkehr den Gästen die Gerichte vorsetzen, die ich komponiere. Gudrun ist sehr tüchtig und von angenehm ausgeglichenem Gemüt – wenn sie nicht gerade einen der grausamen Schicksalsschläge einstecken muss, von denen sie gebeutelt wird. Dann putzt sie.

Vor kurzem ist David bei ihr eingezogen. Er ist immer gut gelaunt und zeichnet sich durch erstaunliche Bedürfnislosigkeit aus. Mit den Worten, er wisse noch nicht, ob er sich auf lange Sicht in der Eifel einrichten wolle, zerstob er allerdings Gudruns Traum von der Rückkehr in ihr altes Elternhaus am Arm des Mannes, dem es jetzt gehört. Als er vor drei Monaten ankündigte, den Hof einer armen Bauernfamilie zu verpachten, deren eigenes Anwesen wegen der dramatisch gesunkenen Milchpreise zwangsversteigert wurde, hatte Gudrun mit Engelszungen auf ihn eingeredet.

„Mit einem Gnadenhof gehen die sofort wieder bankrott! Wer zahlt schon gutes Geld für schlechte alte Tiere? So etwas hat in der Eifel keine Zukunft“, sagte sie. Die beschwörende Betonung, die sie auf das Wort Zukunft legte, ließ uns alle erschauern. Jeder Ansatz, sich ihren Traum von einem Mann fürs Leben zu verwirklichen, ist bisher in eine Katastrophe gemündet, an deren Ende mehr als nur eine Leiche zu beklagen war. 

Die Kleine mit dem Eiertablett sieht aus, als würde sie zu Hause Ärger kriegen, wenn sie mit ihrer Adoptionsmission scheitert.

Ich stehe wieder auf und mustere die mittelgroßen Eier. Von alten ausgemusterten Hühnern? Wohl eher von Hennen, denen der Gnadenhof ein Dasein in der Legebatterie erspart hat. 

„Wie heißt du?“, frage ich.

„Pia“, antwortet sie und setzt zögerlich hinzu: „Prönsfeldt“.

Den Namen könnte sie nach Streichung des Umlauts als Model glatt behalten.
„Wir sind die Pees“, erklärt Pia. Ein bitterer Unterton schwingt in ihrer Stimme mit. „Mein Papa heißt Paul, meine Mama Petra und meine Schwester Patti, eigentlich heißt sie Patrizia. Blöd, nicht?“

„Es gibt Schlimmeres“, sage ich leichthin. „Ich habe auch die gleichen Anfangsbuchstaben. Katja Klein. Wenn ich einen Mann namens Klaus geheiratet und der meinen Nachnamen angenommen hätte, hätten wir unsere Kinder Karl und Katharina nennen können; das wären dann unsere Großen und wir gemeinsam die Kaas gewesen.“

Zum ersten Mal schleicht sich ein Lächeln in das bisher so ernste und fast ängstlich wirkende Gesicht. Auf dem Wochenmarkt hat dieses Mädchen bestimmt noch nie gestanden.

„Sind Sie aber nicht.“

„Nein. Wie alt bist du, Pia?“

Sie zögert.

„Gerade achtzehn geworden“, flüstert sie schließlich.

Das überrascht mich, ich hatte sie auf höchstens Fünfzehn geschätzt.

„Oh, Entschuldigung, da muss ich ja Sie sagen.“ 

„Nee, nee, ist schon gut so“, wehrt sie ab. „Meine Schwester und ich werden immer für jünger gehalten.“

„Später werdet ihr euch darüber freuen.“

„Ich weiß nicht.“ 

„Ist deine Schwester jünger oder älter?“

„Ein Jahr älter.“

„Dann seid ihr euch wohl sehr nah?“
Sie antwortet nicht.

„Ich hätte gern eine Schwester in meinem Alter gehabt“, sage ich, „aber ich war ein Einzelkind.“

„Muss schön gewesen sein.“

„Versteht ihr euch denn nicht?“

„Doch, doch“, antwortet sie eilig. „Meine Schwester ist meine beste Freundin.“
Klar, denke ich, sie sind neu hier und in der Nachbarschaft gibt es kaum jemanden in ihrem Alter.

„Aber du hast auch einen Papa“, fahre ich fort. „Ich hatte leider keinen.“

„Es gibt Schlimmeres“, gibt sie mir ohne ein Lächeln meine Worte zurück. Eilig setzt sie hinzu:
„Möchten Sie nun die Hühner adoptieren?“

„Wie viele habt ihr denn?

„Weiß nicht genau, dreißig, vierzig. Und einen Hahn.“

„Natürlich. Und was habt ihr denn noch für Tiere?“

„Vier Pferde, ein Muli, einen Pfau, zwei Kühe, sieben Hunde, neun Katzen, ein Schaf, fünf Schweine und ein paar Gänse. Sind Sie an einem Hund interessiert?“

„Da hätte Linus bestimmt was dagegen.“

„Ist das Ihr Mann?“

„Nein, mein Hund.“

Mit Karacho fährt ein Wagen in den Hof. Der belgische Jeep hält mit quietschenden Bremsen. Erschrocken starrt Pia auf die Aufschrift Polizei und greift nach dem Eiertablett.

„Es ist nicht verboten, Hühner zur Adoption freizugeben“, beruhige ich sie und treffe rasch eine Entscheidung.

„Gib mir die Eier“, sage ich und nehme dem Mädchen die Nachkommenschaft meiner künftigen Adoptivschar ab. Die Menschen auf der Kehr sollten einander beistehen. Und natürlich auch Geld in meinem Restaurant lassen. Ich verbuche die Sache unter Nachbarschaftshilfe mit Eigenwerbung. Zudem ist es praktischer, Eier ins Haus geliefert zu bekommen, als sie im Auto selbst zu transportieren. 

„Ich bring euch das Geld morgen vorbei und schau mir meine Hühner an“, sage ich. „Außerdem lade ich die gesamte Familie“ – beinahe hätte ich gesagt alle Pees – „zur Eröffnung ein, sag das bitte deinen Eltern.“

Pia nickt und huscht davon, bevor Marcel seinem Auto entstiegen ist. Der Polizeiinspektor aus der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, kurz DG genannt, ist zwar mein Freund, aber als meinen Lebensgefährten betrachte ich ihn nicht. Mit Gewichtigkeit kenne ich mich aus, und eine solche Bezeichnung würde zu schwer auf unserer fragilen emotionalen Beziehung lasten.

„Tach, wer war die denn?“, fragt er und schaut dem rennenden Mädchen hinterher.

„Eine spät pubertierende Eifelerin, die an meine Mutterinstinkte appelliert hat“, sage ich, „erkläre ich dir nachher.“

Andere Paare fallen sich bei der Begrüßung um den Hals. Uns überkommt das nur, wenn einer von uns beiden gerade knapp dem Tod entronnen ist, also eher selten. Ein Wiedersehens-Ritual der Zärtlichkeit haben wir nicht entwickeln können. Das mag unserem Alter geschuldet sein – Marcel wird die Fünfzig auch demnächst überschreiten -, aber vermutlich hat das eher mit jenem Selbstschutz zu tun, den wir uns beruflich und privat angeeignet haben. Wenn man so unterschiedliche Leben führt wie wir, weiß man nie, in welcher Verfassung man den anderen bei der nächsten Begegnung antrifft. Vor allem, da wir einander drei Tage weder gesehen noch gesprochen haben. Ein sehr verzwickter Fall erfordere seine ganze Aufmerksamkeit, hatte Marcel gesagt, und ich weiß, wie übel gelaunt ihn schlecht laufende Ermittlungen machen können. Er wiederum weiß, welchem Stress ich vor der Restaurant-Eröffnung ausgesetzt bin und wie unleidlich ich werden kann, wenn etwas nicht nach meinen Vorstellungen läuft. Solche Bedenken stehen einer spontanen Umarmung im Wege. Stattdessen sondiert man die atmosphärische Lage und äußert vorsichtshalber erst mal konstruktive Kritik. 

„Das Schild hängt schief“, bemerkt Marcel und weist nach oben.

„Sage ich ja“, stimme ich ihm zu. „Alles muss man hier selbst machen.“

Ihn anziehen auch, denke ich, trete näher an ihn heran und berühre entgeistert einen bunten Hemdknopf. 

„Habe ich selber angenäht“, bemerkt er stolz. „Sie gleichen der Hemdfarbe am ehesten.“

„Sie sind orange.“

„Die Verkäuferin hat gesagt, sie könnten als aubergine durchgehen.“

„Immer wieder erstaunlich, was bei euch in Belgien so alles durchgehen kann“, murmele ich.

Die schrecklichen Knöpfe sehe ich gar nicht mehr, als wir mit Gudrun und David bei Hein und Jupp am üppig gedeckten Tisch sitzen und über mein Restaurant, über Hühneradoptionen und die Familie Pee reden. Ich sehe etwas anderes. Verstohlene Blicke, die Marcel auf den Wandkalender dieses Schwulenhaushalts wirft. Er nimmt an unserem Gespräch überhaupt nicht teil, sondern starrt immer wieder auf das Foto eines nur mit einem Lendenschurz ziemlich unzureichend bekleideten braun gebrannten jungen Muskelpakets mit Kussmund und keck aufgesetztem Bauarbeiterhelm, unter dem ein paar blonde Haarsträhnen dekorativ hervorlugen. Zugegeben, ein knackiger Knabe, aber was fasziniert meinen Freund an ihm? 

„Amalie“, sagt Hein. „Das ist doch ein schöner Hühnername. Oder Feodora, Luzinda, Kiki und Mimi. Du musst deinen Pflegehennen unbedingt Namen geben, Katja, das ist persönlicher.“

„Ich pflege sie nicht, sondern koche ihre Kinder“, gebe ich zu bedenken. „Was meinst du, Marcel, ist es da ethisch vertretbar, die Mütter zu taufen? Marcel?“
„Häh?“

Erst bei der zweiten Nennung seines Namens scheint Marcel aus der Trance zu erwachen, in die ihn offensichtlich dieses Mannsbild an der Wand versetzt hat.

„Schlag du doch mal einen passenden Namen vor“, versetzt Jupp sanft, meinen Blick meidend.

„Fred“, eilt sich Marcel dem Vorschlag nachzukommen.
Peinliches Schweigen. 

„Ist Fred ein Frauenname in Deutschland?“, fragt David schließlich.

„Kurzform für Frederike“, presse ich hervor. Ich kann einfach nicht glauben, dass ich mich in Marcel so geirrt haben soll. Nicht nur mir wird die Sache langsam unheimlich.

„Hast du ein neues Hobby, Marcel?“, erkundigt sich Hein.

Ein neues Hobby? Seit wann ist das eine Umschreibung für sexuelle Neuorientierung?

„Was für ein Hobby?“, fragt Marcel irritiert.

„Na, fotografieren!“, ruft Hein. „Ich kann ja verstehen, dass du das Foto auch toll findest. Der Mai ist rein künstlerisch gesehen das weitaus beste Bild in diesem Kalender.“

Marcel schüttelt den Kopf und starrt weiter auf das Bild.
Hein schlägt auf den Tisch, dass die Tassen klirren. „Das ist ja nicht mehr zum Aushalten! Nun steh schon auf und schau es dir genauer an!“

Ich kann es nicht fassen: Marcel steht tatsächlich auf und schreitet zur Wand. Wir sind alle sehr still, als er das Foto intensiv mustert.

„Hackerstivvell!“, schreckt er uns plötzlich auf. „Das ist er!“

„Wer denn?“, flüstert Gudrun.

„Mein Opfer!“

„Dein was?“, frage ich fassungslos. 

„Meine Leiche“, setzt Marcel hinzu. „Kann ich das Bild haben?“

„Hol es dir, hol es nur“, sagt Hein, obwohl der Mai noch gar nicht begonnen hat, aber einem derart verstörten Mann darf man nichts abschlagen. „Du kannst den ganzen Kalender mitholen, wenn du willst“, setzt er eilig hinzu. 
„Danke, den werde ich auch brauchen.“

Marcel atmet tief aus, als er den Wandkalender herunternimmt.
David ist als Einzigem die Farbe nicht aus dem Gesicht gewichen. Er sieht völlig entspannt aus, betrachtet nur uns etwas ratlos. Aber er lebt erst seit Kurzem auf der Kehr, und hat vermutlich noch nie so tief in die Abgründe von vermeintlich wohlvertrauten Menschen blicken müssen wie wir anderen. Wenn ich eins aus den vergangenen beiden Jahren in der Eifel gelernt habe, dann ist es, niemandem mehr rückhaltlos zu vertrauen. 

„Ist das dein John Doe?“, fragt David sachlich.

Marcel nickt.

Ich schlage mir an die Stirn. Natürlich! Wie konnte ich nur so blöd sein?

„Du kennst seinen Namen?“, ruft Gudrun entsetzt. Ich ahne, was in ihr vorgeht und eile mich, sie zu beruhigen.

„John Doe nennt die Polizei in Amerika unidentifizierte Leichen“, erläutere ich, blicke Marcel nach Zustimmung heischend an und erschauere nun doch wieder angesichts der orangen Knöpfe auf dem auberginefarbenen Stoff. „Das ist ein Aushilfsname so ähnlich wie Max Mustermann bei uns. Oder Fred bei Marcel.“

„Ach so“, sagt Gudrun misstrauisch.

Marcel steht immer noch.

„Endlich haben wir eine Spur“, sagt er. „Seit drei Tagen versuchen wir herauszufinden, wer der Mann ist.“

„Wie, wo und wann habt ihr ihn gefunden?“, frage ich.

„Vor drei Tagen. Erstochen. Mit dem Kopf im Eiterbach, nahe der N626.“

Er seufzt, klemmt sich den Kalender unter den Arm und leert im Stehen seine Tasse Kaffee.

„Entschuldigt, aber ich fahre gleich ins Büro und gehe der Sache nach. Tut mir leid.“

Mir nicht. Ich bin erleichtert. Darüber, dass diesmal eine Leiche ein Stück weit weg von der Kehr in Belgien aufgefunden wurde. Und darüber, dass Marcel nur seinen Job tut. Herausfinden muss, wer der arme junge Bauarbeiter war, und wer dafür gesorgt hat, dass er nie wieder ein Kalenderblatt schmücken wird.

„Scheußliche Geschichte“, seufzt Hein, als die Haustür hinter Marcel ins Schloss fällt. „Vielleicht hat der Mann einen Freund, der noch gar nichts weiß. Und sich später Vorwürfe machen wird, weil er geglaubt hat, der Junge geht fremd. Weil der sich nicht gemeldet hat. Furchtbar.“

„Die armen Eltern“, sagt Jupp.

„Aber mit uns hat das alles nichts zu tun“, bemerkt Gudrun und strahlt David an: „Wie klug, dass du das gleich verstanden hast!“

„Was hast du gedacht?“, fragt David grinsend zurück. „Dass Marcel ein Date mit dem Bild will?“

Unsere Runde bricht in erlösendes Gelächter aus. Welch ein absurder Gedanke!