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Die Rebellin von Mykonos – Leseprobe

PAROS

»Sie haben ihn vergiftet!« 

Der Schrei ihrer Mutter klang Mando Mavrojenous noch in den Ohren, als sie über die schmale Gasse an den Schweinen vorbei zum Hafen eilte, um einen Schiffer zu beauftragen, ihre Schwester Irini aus Tinos zu holen. Die Fischer hatten Sturm angekündigt, aber das Meer war noch ruhig, eine bleigraue spiegelglatte Fläche, die am Horizont eins wurde mit einem trostlosen Himmel.

»Beileid, mein Beileid.« Sie hörte die Zurufe, wandte sich aber nicht um. Sie wusste, dass die Nachricht vom Tod ihres Vaters inzwischen das letzte Haus von Parikia erreicht haben musste. Sie hatte schon geschlafen, als die Männer spät in der Nacht ihren Vater ins Haus trugen. Er atmete flach, als sie ihn auf die Bank im Wohnzimmer legten und ihrer Mutter mitteilten, dass sein Kopf während des Essens plötzlich in die Suppe gefallen wäre. Dabei habe er dem Landwein gar nicht so sehr zugesprochen, sagte einer der Männer. Der Schrei ihrer Mutter weckte Mando. Sie stürzte ins Wohnzimmer, sah den Arzt, der sich über ihren Vater beugte, und die Mutter, die, von der Dienerin Vassiliki gestützt, anklagend die Arme gegen fünf Männer ob, die mit aschfahlen Gesichtern neben der Tür standen.

Der Arzt richtete sich auf, blickte Mando in die Augen und schüttelte den Kopf. Wie erstarrt betrachtete Mando den leblosen Körper ihres Vaters. Sie sah im fahlen Schein der Lampen sein Gesicht bleicher werden, fast durchsichtig. Die strengen Falten um Nase und Stirn verschwanden. Mando erschrak vor dem wächsernen Gesicht, das sich in der Stunde des Todes verjüngte. Sie war das jüngste von fünf Kindern, ein Nachkömmling, und der Vater war ihr immer alt vorgekommen, ein gütiger, weiser Mensch, der ihr kaum einen Wunsch abschlagen konnte. Mit dem Vater war ihr Bundesgenosse gestorben.

»Haben sie ihn vergiftet?« Eine magere alte Frau zog Mando am Arme und sah sie aus neugierigen schwarzen Olivenaugen an. »Weil er das Land nicht verkaufen wollte?« 

»Lass mich los!«, rief Mando. »Ich weiß es nicht!«

Plötzlich war sie von Dutzenden von Menschen umringt, die wild auf sie einredeten, an ihr zerrten und ihr den Weg zum Hafen versperrten.

Ich hätte Vassiliki schicken sollen, dachte sie und wusste im selben Augenblick, dass es ihr lieber war, unter freiem Himmel von Menschen bedrängt zu werden, als der grauenvollen Atmosphäre in ihrem Elternhaus ausgesetzt zu sein. Schon in den frühen Morgenstunden waren die Krähen eingefallen – so hatte ihr Vater immer die wehklagenden, schwarz gekleideten Trauerweiber genannt -, hatten die Spiegel mit schwarzen Tüchern verhängt, sich laut schreiend um den langen Tisch geschart, auf dem ihr Vater aufgebahrt lag, und sich dann brüllend, singend oder vor sich hin murmelnd auf dem Fußboden niedergelassen. Mit aufgelösten Haaren warf sich Mandos Mutter Zakarati immer wieder über ihren Mann und schrie: »Wer wird dir jetzt den Kaffee bereiten? Wer wird dir jetzt dein Lieblingslied vorspielen?«
Angewidert hatte Mando ihre Mutter beobachtet. Wann hatte ihre Mutter schon den Kaffee selber zubereitet? Und hatte ihr Vater nicht ihr eigenes Klavierspiel dem der Mutter vorgezogen? Wie unwürdig sie sich benahm, sie, die Mando immer vorwarf, nicht die rechte Haltung und Würde für eine Tochter aus fürstlichem Hause zu bewahren. Wie peinlich war die Zurschaustellung ihrer Trauer! Wie konnte man überhaupt so bald trauern, wenn man doch noch gar nicht recht begriffen hatte, dass Nikolaos Mavrojenous nicht mehr war?

»Lasst sie in Ruhe! Schämt ihr euch denn gar nicht?«

Wie ein Peitschenschlag trieb der Ruf die Menschen auseinander. Dankbar blickte Mando auf und sah einen jungen Mann auf sich zukommen, der ihr entfernt bekannt vorkam.

»Mademoiselle Madon«, sprach er sie auf Französisch an, »welch ein Schlag für Sie! Ich weiß, wie nahe Sie Ihrem Vater gestanden haben.« Er verbeugte sich. »Jakinthos Blakaris aus Hydra« stellte er sich vor. Sein dicht gewelltes, hellbraunes Haar fiel über ihre Hand, als er sie küsste. Seine seltsam hellen Augen, die Mando an das Meer im Morgenlicht erinnerten, begegneten ihren dunkelbraunen. Noch nie hatte sie so lange und schön geschwungene Wimpern bei einem Mann gesehen.

»Als Kinder haben wir miteinander gespielt.«  Er nickte zum Strand hin. »Ich kann mir immer noch nicht vergeben, dass ich Ihnen damals Segeln beigebracht habe.« 

Jetzt wusste sie wieder, wer er war, und die Erinnerung lieg sie unwillkürlich lächeln. Sie sah sich als Elfjährige mit dem nur wenig älteren Jakinthos am Strand. Sein Vater, ein reicher Kaufmann und Reeder, war nach Paros gekommen, um mit ihrem Vater Geschäfte zu machen. Sie hatte Jakinthos zu einem Piratenspiel am Strand eingeladen, aber schon nach wenigen Minuten fand der Reederssohn ein Piratenspiel ohne Schiff langweilig. Sie wateten durch das flache Wasser zu einem kleinen Khaiki, lichteten den Anker, setzten das Segel und nahmen Kurs auf die offene See. Mando stand am Bug, hob die Arme und jubelte. Noch nie war sie sich so frei vorgekommen! Das Glücksgefühl währte nicht lange.
Im Schutz der Bucht von Parikia war von dem starken Meltemiwind nur wenig zu merken gewesen, aber
kaum hatte das Khaiki die Landzunge von Aghios Fokas umschifft, als das Boot bedrohlich zu schwanken begann. Obwohl der Junge ein geübter Segler war, fehlte ihm bald die Kraft, das Boot allein zu steuern. Er brüllte Mando an, ihm zu helfen, und mit vereinten Kräften glückte es ihnen, das Khaiki vor dem Kentern zu bewahren.

Mando stellte sich dabei so geschickt an, dass er ihr später ein natürliches Talent im Umgang mit Booten bescheinigte. Anstatt aber zurück in die sichere Bucht zu segeln, nahmen die Kinder Kurs auf Antiparos. Noch bevor sie die vorgelagerte Insel erreichten, prallten sie gegen einen Felsen im Meer. Das Boot lief schnell voll, aber es sank nicht, da Jakinthos es an einer Klippe festgebunden hatte. Sie wurden erst gegen Abend entdeckt, als sich der Meltemi gelegt hatte und die ersten Fischer wieder ausfuhren.

Als die beiden Kinder in Mandos Elternhaus abgeliefert wurden, erhielt Jakinthos von seinem Vater eine Tracht Prügel und Mando wurde von ihrer Mutter für einen Tag und eine Nacht in eine fensterlose Rumpelkammer gesperrt. Vassiliki, die wusste, wie sehr sich das Mädchen vor der Dunkelheit fürchtete, hatte ihr heimlich eine Öllampe zugesteckt. Als deren Schein auf jenen grünen Kasten fiel, den sie als kleines Kind einmal heimlich geöffnet hatte, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sie würde den Inhalt dieses Kastens nie vergessen.

»Wohin kann ich Sie begleiten? «fragte Jakinthos jetzt.

»Ich brauche ein Boot«, erklärte Mando und reichte Jakinthos ein Beutelchen. »Bitte finden Sie einen Fischer, der meine Schwester und ihren Mann aus Tinos holt.«

Jakinthos nahm das Beutelchen nicht. Er schüttelte den Kopf und wies auf den Himmel, über den inzwischen erste Wolkenfetzen jagten. »Kein Fischer wird jetzt sein Khaiki aufs Spiel setzen«, sagte er. »Es kommt ein Sturm auf.« 

Wie zur Bestätigung blähte ein Windstoß Mandos Rock auf und enthüllte ein Unterkleid aus Brüssler Spitze.

»Das ist mir egal«, sagte sie störrisch.

»Mir auch«, sagte er und nahm wieder ihren Arm. »Mein Schiff ist stabiler, ich werde Ihre Schwester holen.«

»Dann komme ich mit.« 

Er schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht noch einmal mit Ihnen Schiffbruch erleiden.«

»So dumm habe ich mich doch damals gar nicht angestellt.«

»Das stimmt.«

Die Rebellin von Mykonos – Nachwort

Nachwort zur überarbeiteten Neuauflage von „Die Rebellin von Mykonos“

Auf der beliebten Touristeninsel Mykonos lebt Mando Mavrojenous (auch: Manto Mavrogenous) in der Erinnerung der Einheimischen und im Namen diverser Bars, Cafés und Hotels weiter. Auch jener zentrale Platz am Hafen, wo ihr – wie auch auf Paros und in Athen – ein Denkmal errichtet wurde, ist nach ihr benannt worden. Reisende konnten früher unbesorgt ihre Rucksäcke zu Füßen der hohen Büste legen, während sie auf Zimmersuche gingen. Deshalb hatte ich die Steinfigur zunächst für eine Schutzheilige des Eigentums gehalten. Erst sehr viel später erfuhr ich, wen sie wirklich darstellt und welche Bedeutung sie für die griechische Geschichte hat.

Die Idee zu diesem Roman aber reifte, als ich schon längst nicht mehr auf Mykonos lebte. Schweren Herzens hatte ich die Insel im Jahr des deutschen Mauerfalls verlassen. Auch für mich war es damals Zeit für einen Neustart gewesen. Also zog ich nach Amsterdam, baute mir dort eine Existenz als Übersetzerin auf und schrieb meinen ersten historischen Roman „Die Marketenderin“. Dieses Buch kam im deutschsprachigen Raum so gut an, dass ich mich darauf freute, einen weiteren Roman schreiben zu können. Am liebsten wieder über eine bemerkenswerte Frau und am allerliebsten über eine, die mich zumindest literarisch nach Griechenland zurückbringen könnte.

Da fiel mir die Büste am Hafen von Mykonos ein. Welche Geschichte steckte hinter dieser Frau, deren Bildnis in einem Land der Männerherrschaft auf einen Sockel gestellt worden ist? Ich kehrte für ein halbes Jahr auf die Insel zurück, die so lange mein Zuhause gewesen war. Dort wie auch später in Nauplia und Athen folgte ich den Spuren Mandos.

Langsam entfaltete sich dabei das Bild einer spannenden und zerrissenen Persönlichkeit. Mando hatte nicht nur der türkischen Besatzungsmacht den Kampf angesagt, sondern auch dem Verhaltenskodex, der das Leben der griechischen Frau einengte. Interessanterweise aber machte sie sich gerade manche dieser Konventionen zunutze, um ihrem Land zur Unabhängigkeit und sich selbst zu größerer Freiheit zu verhelfen.

Frauenleben in den 1980er Jahre auf der Insel Paros

Das fand ich nicht immer sympathisch, aber nachvollziehbar und durchgängig faszinierend. Schließlich hatte ich Anfang der Achtzigerjahre selbst erlebt, wie eingeschränkt sich noch damals das Leben der meisten einheimischen Frauen auf Paros gestaltete. So heftig sie im Familienkreis auch das Zepter schwenken mochten, außerhalb des Hauses hatten sie wenig zu melden, wenn man sie denn jenseits von Einkauf und Kirchgang je sah. Ich saß in ihren Küchen, wo sie mit grimmiger Lust und unübersetzbaren Ausdrücken Salatgurken in Scheiben hieben. Ungeschulte Mütter diktierten mir Briefe an die Verwandtschaft in fernen Landen, und ihre Töchter baten mich, ihnen Englisch beizubringen. Die Söhne sollen lernen, murrten die Mütter, doch diese hatten meist wenig Lust und wollten höchstens ein paar Phrasen aufsagen können, um Touristinnen anzumachen oder Hotelzimmer zu vermieten. Die Mädchen aber lernten wie besessen – beseelt von der Hoffnung auf ein Leben jenseits der Insel. Bildung war ihr Ticket in die Freiheit vom Zwang einer vorgezeichneten Zukunft. Sie löcherten mich mit Fragen. Und verstanden nicht, weshalb ich mich freiwillig auf jener Insel niedergelassen hatte, die sie um jeden Preis verlassen wollten. 

Eines Tages stellte mir eine junge verheiratete Frau eine Frage, die mich ungemein verstörte: „Warum lassen sich Touristinnen mit unseren Männern ein? Heiraten können sie die nicht und Geld nehmen sie dafür auch nicht. Ich bin froh, wenn mich mein Mann in Ruhe lässt, aber was haben die ausländischen Frauen denn bloß davon?“

Als mir dann noch auffiel, dass junge verheiratete Frauen den Verlauf der Zeit oftmals so markierten: „Das war nach meiner vierten … fünften … oder sechsten Abtreibung …“ suchte ich die Hebamme des Ortes auf, eine offene und aufgeklärte Frau aus Athen.

„Ärzte reden den Frauen ein, die Pille mache krank“, sagte sie. „Wenn die Frau schon einen oder zwei Söhne geboren hat, raten sie zur Abtreibung als Empfängnisverhütung. Das ist für den Arzt deutlich lukrativer.“ Sex, so bestätigte sie, betrachteten die meisten jungen Frauen ausschließlich als lästige eheliche Pflicht, der sie nachgehen müssten, um einen Sohn zu gebären. Denn wenn dieser irgendwann selbst heiratete, hatte sie mit einer Schwiegertochter zum Rumkommandieren die höchste Stufe der ihr möglichen Macht erreicht. Töchter waren nicht nur nicht erwünscht, sondern oftmals eine Katastrophe: Deren Mitgift konnte eine Familie ruinieren. Es gehörte sich nämlich, jede Tochter zur Hochzeit mit einem fertig eingerichteten Eigenheim auszustatten und den frischgebackenen Ehemann mit genügend finanziellen Mitteln für ein eigenes kleines Unternehmen. In manchen Familien legten sich Vater und Söhne hauptsächlich für die Aussteuer des weiblichen Nachwuchses krumm. 

Mittelalter, dachte ich, nicht wissend, dass ich viele dieser Erfahrungen Jahre später in einem historischen Roman verarbeiten würde, der im 19. Jahrhundert spielt.

Damals wollte ich sofort etwas tun. Also gründeten die verzweifelte Hebamme, meine Freundin Dina, eine gebildete Athenerin, und ich ein „Frauen-Kafenion“. Im Remezzo, der Bar von Dinas Ehemann, luden wir jeden Mittwoch die Frauen von Naoussa zu Vortrag und Gespräch ein. Mit Stick- und Strickzeug bewaffnet schlichen also junge Inselbewohnerinnen am Nachmittag in die ihnen bis dato nur von außen bekannte Bar, dahin, wo mancher Ehemann sonst Touristinnen ansprach.

Doch unserem Aufklärungsprogramm war nur ein kurzes Leben beschieden. Wer sprengte nach dem dritten Treffen die Versammlung? Die alten Frauen! Keifend trieben sie ihre Schwiegertöchter aus dem Laden und beschimpften uns, ihre Mädchen dem Verderben auszuliefern.

Kurz danach verließ ich Paros. Auf der kosmopolitischen Insel Mykonos sahen Leben und Lieben deutlich anders aus.

Als ich dann sehr viel später über Mando schrieb, war mir eins klar: Meine Heldin sollte auf jeden Fall Freude am Liebesakt haben, und das wollte ich deutlich schildern. Daran sind auch die Schwiegermütter von Paros schuld.

Meine eigene Mutter war über die expliziten Sexszenen in meinem Roman nicht glücklich. „Deshalb kann ich das Buch meinen Freundinnen nicht schenken“, klagte sie. „Die werden alle fragen, ob Martina das selbst so erlebt hat.“

Fakt und Fiktion
In der Nähe ihres Denkmals auf Mykonos befindet sich Mandos einstiges Haus. Es ist heute öffentlich zugänglich, da es die Inselbibliothek beherbergt. An der Wand kann man den weitverzweigten Mavrojenous-Stammbaum studieren. Da wundert es nicht, dass fast jeder Einheimische behauptet, mit Mando verwandt zu sein, und mir viele Mykoniaten mit großer Freude bei meinen Recherchen halfen.

Als ich mich Ende der Neunzigerjahre an meinen Roman setzte, war das Internet noch keine Hilfe. Ich sammelte meine Informationen also vor Ort. Mitarbeiter der Inselverwaltung freuten sich sehr, dass ich ihrer Heldin ein literarisches Denkmal setzen wollte, und überreichten mir die von ihnen herausgegebene damals gerade erst erschienene Biografie von Manouil Tassoulas über Mando. Als historischer Leitfaden war dieses Buch sehr wertvoll.

Doch hauptsächlich setzte ich mir vieles aus mündlich überlieferten Geschichten zusammen und erfuhr im Nebenlauf mehr über Sitten, Gebräuche und Legenden der Insel als in den acht Jahren, in denen ich mit den Mykoniaten zusammengelebt hatte. Endlich wusste ich, was hinter den Yaloudes-Puppen in den Touristengeschäften steckte und was es mit dem Riesen auf sich hatte, vor dem sich die Kinder fürchteten.

Mando war nicht nur eine reiche Aristokratin gewesen, die ihr gesamtes Vermögen dem griechischen Freiheitskampf geopfert hatte, sondern sie soll sogar als Kriegerin eigenhändig die Türken von Mykonos vertrieben haben. Und als ob das noch nicht genügte: Sie hatte tatsächlich in wilder Ehe mit dem Freiheitskämpfer Dimitris Ypsilanti zusammengelebt, den Respekt des in vielen Liedern immer noch besungenen alten Recken Kolokotrinis gewonnen und auf alle Konventionen der Zeit gepfiffen. Viele ihrer Landsleute fühlen sich heute noch schuldig bei dem Gedanken, dass diese beeindruckende Frau als Fußnote der griechischen Geschichte verarmt und vergessen gestorben ist. Erst nach ihrem Tod hat man sich ihrer Verdienste wieder erinnert und ihr auf Paros ein eindrucksvolles Leichenbegängnis gestaltet. 

Während in den Archiven keine Unterlagen darüber Aufschluss geben, wie Mando die Türken bei ihrem zweiten Ansturm von Mykonos verjagt hat, fand ich die Antwort gewissermaßen vor der Haustür: Als ich das Buch in einem Häuschen am – damals noch unverbauten – Strand von Kalo Livadi schrieb, deutete mein Vermieter aus dem Fenster und erzählte mir die Geschichte von der zum Dampfschiff verwandelten Felsengruppe. Die Steinhütte oberhalb des Strandes stammt tatsächlich aus dem 19. Jahrhundert und hätte Mando und Marcus durchaus als Liebesnest gedient haben können – wenn es denn diese Affäre wirklich gegeben hätte. Unwahrscheinlich ist sie nicht, aber Belege dafür waren natürlich nicht zu finden. Tatsache aber ist, dass Mando in Marcus‘ Haus auf Paros an Typhus gestorben ist.

Die Geschichte des englischen Lords und der einstigen seltsamen „Kurzheiratsgebräuche“ der Insel Mykonos entnahm ich der Schrift des Insellehrers, Historikers und Literaten Panayiotis Kouthasanas mit dem Titel: „Ein irischer Lord auf Mykonos, Delos und Rhenia im Jahr 1749“. Mando hat Dimitri Ypsilanti tatsächlich mit dem gleichen Trick hereinlegen wollen. Wenn man bedenkt, wie verzweifelt und mittellos sie damals gewesen ist, verübelt man es ihr vielleicht weniger.

Ich habe mich in diesem Roman streng an alle überlieferten Fakten und Daten gehalten. Und nur sehr wenige Figuren erfunden: Vassiliki (wiewohl Ali Pascha tatsächlich eine Gefährtin dieses Namens hatte), die Dienstboten in Nauplia, Hussein Pascha, sowie Selim und seine Frau. Fast alle anderen Protagonisten sind mir bei meinen Recherchen begegnet, sogar Marmellakis, der letzte Seeräuber von Mykonos. Dass Mando eine Tochter geboren hat, ist allerdings auch nicht verbürgt, aber darüber kursierten durchaus Gerüchte. Unstrittig ist, dass sie von ihrem Onkel auf Tinos für den Freiheitskampf rekrutiert und ausgebildet worden ist – zusammen mit dem armen Jakinthos. Auch ihre Entführung aus Nauplia und Zurückverfrachtung auf die Heimatinsel sind historisch belegt. Ihr Vater ist wahrscheinlich nicht ermordet worden, sondern starb wohl tatsächlich an einem Herzinfarkt. Der grüne Kasten allerdings ist ein Produkt meiner Fantasie. 

„Die Türken kommen!“

Vierhundert Jahre türkische Besatzung hinterlassen ihre Spuren. Vor allem im kollektiven Gedächtnis. Zurück zu den 1980er Jahren: Wenn damals irgendwo in der Ägäis ein türkisches Kriegsschiff gesichtet wurde oder es mit der Türkei Streit um eine Felseninsel oder Ölschürfrechte gab, brach auf Mykonos und den anderen Inseln Panik aus. Fassungslos beobachtete ich die Hamsterkäufe in den Märkten und hörte die Aufrufe an junge wehrpflichtige Männer.

„Die Türken kommen!“, wurde ich angefaucht, wenn ich vorsichtig darauf hinwies, dass sich wohl kaum zwei NATO-Staaten bekriegen würden. „Du verstehst das nicht!“ Die Angst ging um, Angst vor den Türken, die nur im Sinn hätten, ihr altes Osmanisches Reich wieder zurückzuerobern. Dieser Angst war mit rationalen Argumenten nicht zu begegnen. Auch nicht jenen Griechen, deren Namen auf -glou endete, was eine eigene türkische Herkunft mehr als nur erahnen lässt. Umso überraschter war ich, als der Vater meiner Freundin Zeta, ein selbst einst aus Kleinasien vertriebener Grieche namens Aristoteles, mir sagte: „Wir sollten eigentlich keine Probleme mit den Türken haben, im Verlauf der Jahrhunderte sind sie doch unsere Brüder geworden.“

Wie gut sich beide Länder verstehen können, zeigte sich, als sowohl die Türkei als auch Griechenland kurz nacheinander von Erdbeben heimgesucht wurden – und sich Bürger beider Länder spontan gegenseitig Hilfe leisteten. Ich bleibe zuversichtlich, dass die Türkei und Griechenland auch bei der Lösung der aktuellen Probleme gemeinsame Wege einschlagen werden.

Herzlich bedanken möchte ich mich bei den vielen Mykoniaten, die mich mit Anekdoten, Überlieferungen und Legenden versorgt haben. Suzy Hanioti half mir bei der Entzifferung von Mandos Briefen, und meine Freundin Zeta Bairaktari recherchierte in den Archiven von Nauplia und führte mich zu Mandos dortigen Domizilen. Zeta und den Menschen von Paros und Mykonos ist dieses Buch gewidmet.

Martina Kempff, Bergisches Land 2016

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