„Die Marketenderin – mit Napoleon in Russland“;
Nachwort zur überarbeiteten Neuauflage
Der Marketenderin habe ich sehr viel zu verdanken. Zu allererst natürlich mein Leben:
Auguste Juliane Assenheimer, die mit Napoleons Truppen nach Moskau zog, war meine Urururgroßmutter. Ohne sie hätte es mich also nicht gegeben.
Und ohne sie wäre ich vermutlich nie Schriftstellerin geworden. Diesen Berufswunsch hatte ich zwar schon als Sechsjährige geäußert, ihn aber nach vielen vergeblichen Anläufen jahrzehntelang ad acta gelegt. Ich war Mitte vierzig und arbeitete in Amsterdam als Journalistin und Übersetzerin, als plötzlich mit meinem entfernten Verwandten Gerhard Schreiber auch die Marketenderin und Johannes Gerter in mein Leben traten.
Schlage die Trommel und fürchte dich nicht
Und küsse die Marketenderin!
Das ist die ganze Wissenschaft,
Das ist der Bücher tiefster Sinn.
Heinrich heine
Gerhard Schreiber (1922–2007) stammte nicht nur ebenfalls von Juliane Assenheimer ab, sondern hat in vierter Generation als letzter Nachfahre genau jenen Verlag weitergeführt, den ihr Sohn Jakob Ferdinand, 1831 gegründet hatte.
Kurz bevor Gerhard in den Ruhestand ging und der I.F. Schreiber Verlag erstmals in familienferne Hände übergeben wurde, entdeckte er im Archiv das 1838 veröffentlichte Tagebuch eines württembergischen Leutnants, der den grausamen Feldzug 1812 überlebt hatte. Gerhard schlug mir vor, daraus einen Roman zu machen und ihn mit unserer gemeinsamen Familiengeschichte zu verknüpfen. Das Thema reizte mich, doch angesichts meiner früheren schlechten Erfahrungen mit eingesandten Manuskripten beschied ich ihm, ohne bindende Zusicherung eines Verlags niemals wieder ein Buch zu schreiben. Mein Cousin überredete mich, eine Leseprobe zu verfassen, mit der er dann bei rund fünfzig Verlagen vorstellig wurde und nur Absagen erhielt – übrigens auch von dem Verlag, der ein Jahr später viel Geld für die ersten Taschenbuchrechte zahlen sollte! Als einstiger Verleger hatte sich Gerhard Schreiber von Ablehnungen nämlich nicht so leicht abschrecken lassen und schließlich vom Weitbrecht Verlag in Stuttgart die Zusage erhalten. Da machte ich mich an die Arbeit.
Als Leitfaden diente mir das schmale Bändchen mit dem sonderbaren Titel „Die Württemberger in Russland – Denkwürdiges aus dem Jahr 1812“, das Gerhard in seinem Verlag ausgegraben hatte. Der Autor dieses unglaublich eindrucksvollen Zeugnisses eines wahnsinnigen Feldzuges und seiner grausamen Folgen musste Gründe gehabt haben, anonym bleiben zu wollen.
„Von einem Württembergischer Officier“ steht auf dem Buchdeckel, über den in Sütterlin handschriftlich „Johannes Gerter“ gekritzelt worden ist. Deshalb vermuteten wir hinter diesem Namen den Tagebuchschreiber, auch wenn wir ihn in den Archiven nicht unter den bekannten Überlebenden des Feldzugs entdecken konnten. Möglicherweise befürchtete der Autor Repressalien, da er in seinem Werk ohne jegliche Beschönigung Ross und Reiter nennt. Allerdings tut er sich selbst im Nachhinein durchaus schwer damit, Napoleon die Hauptschuld am Scheitern des wahnwitzigen Unternehmens zu geben. Er macht – wie andere mehr als hundert Jahre später im Zweiten Weltkrieg – das Klima für die Katastrophe verantwortlich: „Nun ging es von Moskau »rückwärts«, mit Eintritt des fürchterlichen nordischen Winters; die Summe aller Leiden sollte nun beginnen und in immer schrecklicherer Steigerung das schönste und zahlreichste Heer, das die Welt je gesehen, auf russischer Erde vertilgen!“
Der Sinnspruch auf dem Titelblatt verweist jedoch durchaus auf vorsichtige Kritik am französischen Kaiser: „Wen Jupiter verderben will, den verblendet er.“
Ich habe jedem Kapitel des Romans eine entsprechende Passage aus dem Tagebuch in der Orthografie des Originals vorangestellt. Eine allgemein verbindliche Rechtschreibung gab es damals noch nicht. Ja, nicht einmal eine individuelle: Der Autor handhabt beim gleichen Wort oftmals unterschiedliche Schreibweisen.
Ich muss allerdings gestehen, dass ich aus dramaturgischen Gründen ein einziges Mal den Originaltext verfälscht habe. Die ersten beiden Sätze im Vorspann zum letzten Kapitel stammen von mir: „Wäre auch das Ziel der Freiheit entfernter gelegen, so sicherte mir doch der längere Aufenthalt in Moskau eine angenehme und sorgenfreie Existenz. Wie es anderen gefangenen Cameraden andernorts erging, vernahm ich von russischen Offizieren, die im Hause Zimmermann ihre Aufwartung machten.“ Der Autor selbst war nämlich auch „andernorts“ in Gefangenschaft und ist erst sehr viel später nach Moskau zurückgekehrt. Manche Orte, die er im Tagebuch erwähnt, gibt es heute nicht mehr. Vielleicht sind sie gänzlich vernichtet oder umbenannt worden. Später hat sich auch mein französischer Übersetzer Claude-Cyrill Laurent mit diesen Namen herumgeschlagen – bis heute wissen wir zum Beispiel nicht, wo genau der im Tagebuch erwähnte Ort Evé sein soll. Ich habe ihn auch nicht auf alten Landkarten aufspüren können. Das Tagebuch kann heute übrigens im Württembergischen Landesmuseum in Stuttgart eingesehen werden.
Von den Beschreibungen der Kriegshandlungen, der Orte und Schreckenstaten habe ich nichts erfunden. Ich tauchte tief in die Geschichte dieses Feldzugs ein; auf meinem Schreibtisch stapelte sich jede Menge Literatur zum Thema. Herausheben möchte ich das vorzügliche Buch von Nigel Nicolson: „Napoleon in Rußland“ (Benziger Verlag), das wie gerufen genau in jenen Tagen in Deutschland herauskam, als ich mit der Arbeit an meinem Roman begonnen hatte.
Gerhard Schreibers Idee, die Ereignisse aus dem Tagebuch mit unserer gemeinsamen Familiengeschichte zu verbinden, stellte mich vor eine sehr schwierige Aufgabe. Es gibt zwar reichlich Material über den Sohn der Marketenderin Jakob Ferdinand Schreiber (siehe den Auszug aus den Memoiren meines Vaters), aber das Schicksal seiner Eltern liegt im Dunklen. Ich fragte in der Familie herum. Manche Nachkommen glaubten zu wissen, dass Matthäus und Juliane zusammen aus dem Krieg zurückgekehrt waren, andere hielten sich an vermeintliche Überlieferungen, beide seien an der Beresina umgekommen. Auch Gerhard Schreiber war zunächst von dieser Version überzeugt.
Leider lebte mein familienforschender Vater nicht mehr, als ich mit den Recherchen begann. Doch in seinem Nachlass fand ich einen Bezug zu einem Kirchenbucheintrag, wonach Auguste Juliane Assenheimer (Marketenderin) am 18.10.1823 in Ulm gestorben sein soll.
Sie ist also auf jeden Fall zurückgekehrt.
Die schlechte Quellenlage könnte einem überlieferten familiären Unbehagen geschuldet sein: Der Korporal und die Marketenderin hatten vor dem Feldzug den damals schon dreijährigen Jakob einfach in der Ulmer Kaserne zurückgelassen. Mit neun kam er in ein Militärwaisenhaus. Nach ihrer Rückkehr aus Russland soll sich die Mutter nie wieder um ihren Sohn gekümmert haben. Mein Vater schrieb dazu entschuldigend: „Sie war wohl sehr krank.“
Viel mehr hat er über die Assenheimerin auch nicht in Erfahrung bringen können. Meine Großmutter, die eine sehr feine Dame war und stets in höchsten Tönen von der Wichtigkeit ihres Großvaters sprach, konnte recht ungehalten werden, wenn mein Vater darauf hinwies, sie stamme von einer Marketenderin ab. Schade, dass beide nicht mehr erleben konnten, wie aus unserer Ahnin eine Romanfigur wurde.
Mit der Wirklichkeit hat die Juliane Assenheimer meines Romans also eher weniger zu tun. Ich gestehe hiermit, unsere Familiengeschichte umgebogen zu haben.
Hier sind die bekannten Fakten: Auguste Juliane Assenheimer war ehelich geboren und bereits zweiunddreißig Jahre alt, als sie mit ihrem Mann, dem Korporal Matthäus Schreiber, nach Moskau zog. Jakob wurde nicht – wie im Roman geschildert – in Moskau geboren, sondern am 6. 2. 1809 (genau 100 Jahre vor meinem Vater) in Schorndorf.
Die Liebesgeschichte zwischen Juliane und Johannes Gerter habe ich frei erfunden, um die Erzählstränge miteinander zu verbinden.
Wie im Rausch schrieb ich den Roman innerhalb von nur sechs Wochen fertig. („Das dürfen Sie niemals jemandem verraten“, hat mir damals mein Verleger zugeraunt.) Jede wache Minute saß ich vor dem mir damals noch recht neuen und unvertrauten PC. Wenn ich schlief, träumte ich die Träume der Assenheimerin. Hungernd und frierend stapfte ich durch tiefen Schnee, erschoss Menschen, die mir zu nahe kommen wollten, riss mit den Zähnen Fleisch aus sterbenden Pferden, versank in eisigen Fluten und verstand die Welt um mich herum nicht mehr. Lass es endlich Frieden werden!
Längst ging es mir nicht mehr nur darum, Schriftstellerin zu werden; ich musste diese Geschichte erzählen und diesen Feldzug überleben. Den Menschen in meiner Umgebung schauderte in jener Zeit vor mir. Ich muss mit glasigen Augen herumgeschlendert sein, Essen in mich hineingeschlungen und Scheußliches erzählt haben.
Mein Roman wurde ein großer Erfolg. Vier unterschiedliche Verlage haben im Laufe der Jahre die Ursprungsfassung veröffentlicht. Dabei ist die Rechtschreibreform mit ihren vielen Änderungen und Anpassungen über das Buch hinweggegangen: Es wurde von meiner noch alten in die ganz neue, in eine moderat neue, wieder in die alte und dann wieder in eine aktuellere Rechtschreibung gesetzt. Ich erschrak, als ich die im Weitbrecht Verlag erschienene Erstausgabe (1998) in Händen hielt. Die in Baden-Württemberg damals übliche extreme neue Rechtschreibung verzichtete fast gänzlich auf Kommata – was meine Bandwurmsätze sogar für mich gelegentlich nahezu unverständlich machte. (Im nächsten Roman „Die Rebellin“ wurden meine Sätze deshalb erheblich kürzer!) Es juckte mir schon damals in den Fingern, meinen Erstling zu überarbeiten. Doch ich war Schriftstellerin geworden, konnte sogar davon leben und musste deshalb jedes Jahr etwas Neues liefern.
Inzwischen habe ich sechzehn Romane geschrieben und viel dazu gelernt. Mir wurde immer wichtiger, die Feinheiten der Sprache herauszuarbeiten. Darauf hatte ich im Eifer des Schreibens bei meinem ersten Roman leider überhaupt nicht geachtet.
Schon deshalb war ich sehr beglückt, als mir der Ammianus Verlag die Gelegenheit bot, meinen ersten Roman zu überarbeiten. Am Inhalt habe ich nichts geändert, aber hier und da sprachlich einiges geglättet, Überflüssiges herausgenommen und Sätze eingekürzt. Das Abenteuer, mich nach fast zwanzig Jahren wieder um meinen Erstling zu kümmern, ähnelt vielleicht jenem, nach zwei Jahrzehnten einem vernachlässigten, aber dennoch geliebten Kind wiederzubegegnen. Man kann nicht alle Erziehungsfehler wieder gut machen, ist aber froh, dass es dennoch gut geraten ist, Spannendes aus seinem Leben erzählen und anderen Menschen Freude bereiten kann.
Martina Kempff, Bergisches Land 2015
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